Der Ruf der Kiwis
helfen dürfen, die Tiere dorthin zu treiben. Der Viehtrieb gehörte zu seinen schönsten Erinnerungen, und er wurde nicht müde, davon zu erzählen. Charlotte hörte lächelnd zu und nahm die Opiumtinktur, die Dr. Barrington ihr verschrieben hatte. Sie fühlte sich nicht wohl dabei. Auf die Dauer half es schließlich nicht, höchstens dann, wenn man mehr und mehr davon schluckte. Charlotte hasste es auch, dass die Droge sie müde und antriebslos werden ließ. Sie wollte die Welt mit allen Sinnen wahrnehmen – und sie wollte keine Sekunde mit Jack verlieren.
Die Überfahrt zur Nordinsel war dann jedoch zu viel für sie. In der Cook Strait wüteten wieder einmal die berüchtigten »Roaring Forties«, die See war rau, und Charlotte war nie sehr seefest gewesen. Sie versuchte, launig zu erzählen, wie übel ihr auf der Reise nach England und zurück gewesen war, aber irgendwann konnte sie nicht mehr und ergab sich in ihr Schicksal, sich immer und immer wieder zu übergeben. Am Ende war ihr so schwindelig, dass sie kaum laufen konnte. Jack trug sie fast vom Anleger zur Droschke und schließlich auf ihr Hotelzimmer.
»Wir sollten sofort nach Auckland aufbrechen, wenn es dir besser geht«, meinte er besorgt, als sie wieder die Fenster verdunkelte und den Wollschal hervorholte. Dabei brachten Wärme und Dunkelheit längst nicht mehr so viel Erleichterung, wie Charlotte es von früheren Migräneanfällen gewöhnt war. Eigentlich half nur noch das Opium, aber das dämpfte nicht nur den Kopfschmerz, sondern auch ihre Gefühle und Wahrnehmungen.
»Aber du wolltest doch noch so viel sehen«, wandte Charlotte ein. »Den Regenwald. Und
rotorua
, die heißen Quellen. Die Geysire ...«
Jack schüttelte wütend den Kopf. »Zum Teufel mit den Geysiren und Bäumen und der ganzen Nordinsel. Wir sind hergekommen, um Dr. Friedman zu sehen. Alles andere ist dummes Zeug, das habe ich nur so gesagt, weil ...«
»Weil es doch eine Urlaubsreise sein sollte«, sagte sie sanft. »Und weil du nicht wolltest, dass ich mich ängstige.«
»Aber Waitangi, wo du hinwolltest, da können wir vorbeifahren ...« Jack versuchte, sich zu beruhigen.
Charlotte schüttelte den Kopf. »Das habe ich auch nur so gesagt«, flüsterte sie.
Jack sah sie hilflos an. Aber dann hatte er einen Einfall. »Wir können es auf dem Rückweg machen! Wir besuchen jetzt erst diesen Arzt. Und wenn er dann ... wenn er dann gesagt hat, dass alles in Ordnung ist, bereisen wir die Insel. Einverstanden?«
Charlotte lächelte. »Das tun wir«, sagte sie leise.
»Sie heißt übrigens ›Te Ika a Maui‹ – Mauis Fisch. Die Nordinsel, meine ich.« Jack wusste, dass er plapperte, aber Schweigen hätte er jetzt nicht ertragen. »Der Halbgott Maui zog sie als Fisch aus dem Meer ...«
»Und seine Brüder hackten auf ihn ein, um ihn zu zerteilen, sodass sich Berge, Klippen und Täler auftaten«, ergänzte Charlotte.
Jack schalt sich für seine Torheit. Charlotte kannte die Maori-Legende wahrscheinlich besser als er.
»Das war sowieso ein pfiffiger Kerl, dieser Maui ...«, sprach sie versonnen weiter. »Er konnte die Sonne anhalten. Als die Tage ihm zu schnell vergingen, fing er sie und zwang sie, langsamer zu ziehen. Das würde ich auch gern ...«
Jack nahm sie in die Arme. »Wir fahren morgen nach Auckland.«
In einem Tag war die Reise nach Auckland nicht zu schaffen, obwohl es seit einigen Jahren eine Eisenbahnverbindung gab. Der North Island Main Trunk Railway führte bergauf und bergab durch oft atemberaubend schöne Gegenden. Zuerst ging es die Küste entlang, dann durch vulkanische Landschaften, schließlich durch Farmland. Für Charlotte war die Reise in der schmalspurigen Bahn mit ihrer zum Teil abenteuerlichen Streckenführung jedoch kaum weniger belastend als die Seereise. Sie kämpfte auch hier mit Übelkeit und Schwindel.
»Zurück lassen wir es langsamer angehen«, versprach Jack am letzten Tag der dreitägigen Reise.
Charlotte nickte desinteressiert. Sie wollte nur noch heraus aus diesem Zug und sehnte sich nach einem Bett, das nicht unter ihr schwankte. Kaum zu glauben, dass sie ihre Hochzeitsreise in George Greenwoods Privatwaggon derart genossen hatte. Damals hatten sie Sekt getrunken und über das wackelige Bett gelacht. An diesem Tag konnte sie kaum einen Schluck Tee bei sich behalten.
Beide waren froh, als sie Auckland erreichten, aber keiner hatte mehr Sinn für die Schönheit der auf Vulkanland erbauten Stadt.
»Wir müssen auf den Mount
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