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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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abzuholen.
    Miss Arrowstone schaute höchst ungnädig, als sie das Mädchen ins Büro rief. Sie hatte der kleinen dunkelhäutigen Frau keinen Tee servieren lassen. Dafür hielt sie ihr nochmals den Vortrag, den sich schon George Greenwood hatte anhören müssen: Frauenbildung, besonders auf dem künstlerischen Sektor, sei auch und gerade im Krieg ein wichtigeres Anliegen als die Sicherheit der Zöglinge. Zumal England in keiner Weise gefährdet sei und Cambridge erst recht nicht. Für Miss Arrowstone war es eindeutig ein Zeichen von Feigheit, sich »in die Kolonien« davonzumachen. Tamatea, die nur gebrochen Englisch sprach, hörte sich alles ruhig an. Sie breitete die Arme aus, als Gloria eintrat.
    »Gloria! 
Haere mai!
 Ich mich freuen, dich sehen.«
    Tamatea strahlte übers ganze Gesicht, und Gloria ließ sich bereitwillig in ihre Arme fallen.
    »Auch ich bin glücklich, taua!«, grüßte sie. Ihr Maori war eingerostet, aber sie war stolz, dass ihr die Grußworte noch einfielen. Tamatea freute sich offensichtlich über die Anrede. Sie gehörte der gleichen Generation an wie Kuras Mutter Marama und kam vom gleichen Stamm. Für Maori-Kinder gehörte sie damit zu den »Großeltern«, egal, ob man verwandt war oder nicht. Tamatea war ihre 
taua
, ihre Großmutter. Für Gloria war Tamatea in den letzten Jahren überdies das gewesen, was einer Verwandten am nächsten kam. Die alte Maori-Tänzerin hatte sie auf den Tourneen stets getröstet, sich um sie gekümmert, wenn sie mit einem ihrer häufigen Anfälle von Reisekrankheit kämpfte, und sie gegen die Neckereien der jungen Tänzerinnen in Schutz genommen.
    »Deine Eltern fanden wohl keine Zeit, dich abzuholen«, meinte Miss Arrowstone spitz.
    Tamatea nickte lächelnd. »Ja. Müssen vorbereiten viel. Deshalb geschickt mich. Mit Zug, dann Droschke. Du fertig, Gloria? Dann wir gehen!«
    Gloria genoss den galligen Ausdruck auf Miss Arrowstones Gesicht. Tamatea, das hatte sie oft beobachtet, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie war im Grunde gutmütig, konnte aber durchaus streng sein, wenn ihre Tänzerinnen und Tänzer sich nicht an die Regeln hielten. Selbst Kura-maro-tinis manchmal etwas westliche Auslegung der Maori-Gesänge und Tänze wagte sie zu kritisieren. Gloria hatte den Wortlaut der Diskussionen meist nicht verstanden, denn Kura und Tamatea stritten in raschem Maori. Aber sie sah, dass Tamatea sich meistens durchsetzte. Sie war die einzige Maori-
tohunga
, die bislang bei der Truppe verblieben war. Warum sie sich die jahrelange Trennung von ihrem Stamm antat, blieb ihr Geheimnis. In den Streitereien mit Kura fiel jedoch sehr oft der Name »Marama«. Vertrat Tamatea womöglich Kuras Mutter, die in ganz Aotearoa bekannte Musikerin? War sie die letzte Hüterin der Tradition? Gloria wusste es nicht, aber sie war froh über den Aufschub.
    Die Reise mit Tamatea verlief bestimmt gelassener als eine Fahrt mit William oder Kura. Die letzten Male war Gloria stets von ihrem Vater abgeholt worden, und die Unterhaltung beschränkte sich auf eine Examinierung über den letztjährigen Lehrstoff von Oaks Garden sowie ausführliche Schilderungen von Kuras Erfolgen. Letztere durchsetzt mit Klagen über die Kosten für Tänzer und Transporte.
    »Freust du dich auf Amerika, 
taua?
«, erkundigte sich Gloria, als sie mit Tamatea in der Droschke nach Cambridge saß. Hinter ihr verschwand der Park von Oaks Garden am Horizont. Gloria sah nicht zurück.
    Tamatea zuckte die Achseln. »Für mich ist ein Land wie das andere«, meinte sie. »Keins ist wie das der Ngai Tahu.«
    Gloria nickte traurig. »Wirst du irgendwann zurückgehen?«, fragte sie.
    Die ältere Frau nickte. »Sicher. Vielleicht schon bald. Ich werde zu alt für die Bühne. Das meinen zumindest deine Eltern. Zu Hause ist es ja nichts Ungewöhnliches, dass Großmütter tanzen und singen. Aber hier tun das wohl nur junge Leute. Ich trete auch kaum noch auf. Meistens schminke ich die Mädchen – und natürlich weise ich sie ein. Das Schminken ist das Wichtigste. Ich male die alten Tätowierungen auf die Gesichter. Dann sieht man auch nicht, dass die Tänzer keine wirklichen Maoris sind.«
    Gloria lächelte. »Malst du mich auch mal an, 
taua?
«
    Tamatea musterte sie prüfend. »Bei dir wird es echt aussehen«, sagte sie dann. »Du hast das Blut der Ngai Tahu.«
    Gloria wusste nicht, warum sie ihre Worte mit so unbändigem Stolz erfüllten. Aber nach dem Gespräch mit Tamatea ging es ihr besser als lange Zeit

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