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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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schienen sesshafter zu sein. Charlotte interessierte sich weniger für Architektur. Sie sprach stundenlang mit älteren Angehörigen der Stämme, die sich noch an Erzählungen ihrer Mütter und Väter erinnerten. Charlotte dokumentierte die Sicht der Maoris auf den »Vertrag von Waitangi«, notierte die Interpretationen der zweiten Generation der Betroffenen und vor allem die unterschiedlichen Meinungen dazu bei Männern und Frauen.
    »Die 
pakeha
 hatten eine Königin!«, berichtete eine alte Frau, heute noch aufgeregt. »Meiner Mutter hat das sehr gefallen. Sie gehörte zu den Stammesältesten und wäre selbst gern zum Treffen gegangen. Aber die Männer wollten es unter sich ausmachen. Sie tanzten Kriegs-
haka
, um sich Mut zu machen. Und dann erzählte der Abgesandte der Stämme von seiner Herrin Victoria – das heißt ›Sieg‹! Es hat uns mächtig beeindruckt. Sie war wohl auch so etwas wie eine Göttin für ihn. Jedenfalls versprach sie uns Schutz, und wie sollte sie das sonst, von so weit weg, wäre sie keine Göttin gewesen? Später gab es dann ja doch Streit ... Stimmt es, dass sie Kriegsgesänge anstimmen, da, wo ihr herkommt?«
    Charlotte bestätigte den Kriegsausbruch in Europa. »Aber wir kommen nicht von dort«, stellte sie richtig. »Wir sind nur von der Südinsel aus hierher gereist, von Te waka a Maui.«
    Die alte Frau lächelte. »Es ist nicht wichtig, wo ihr geboren seid, sondern woher eure Ahnen stammen. Daher kommt ihr, und dahin kehren eure Geister zurück, wenn sie sich befreien.«
    »Es wäre mir gar nicht recht, wenn mein Geist letztlich nach England wanderte«, scherzte Jack, als sie die Siedlung schließlich verließen. »Oder nach Schottland oder Wales. Deine Eltern stammen wenigstens beide aus London.«
    Charlotte lächelte schwach. »Aber London ist ein schlechter Ort für Geister«, sagte sie sanft. »Zu laut, zu hektisch. Hawaiki erscheint mir reizvoller ... Eine Insel im blauen Meer, keine Sorgen ...«
    »Kokosnüsse, die dir in den Mund wachsen, wenn sie dir nicht vorher auf den Kopf fallen«, neckte sie Jack, doch er fühlte sich ein wenig beklommen. Es war zu früh, so unbefangen vom Tod zu sprechen, auch wenn es nur um die Mythologie der Maoris ging. Neuseelands Ureinwohner hatten ihren Ursprung auf einer polynesischen Insel, die sie Hawaiki nannten. Von dort aus waren sie in Kanus nach Neuseeland gekommen, nach Aotearoa, und bis heute bewahrte jede Familie das Wissen um den Namen des Kanus, das ihre Ahnen hergebracht hatte. Nach dem Tod des Einzelnen, so die Sage, kehrte sein Geist nach Hawaiki zurück.
    Charlotte griff nach Jacks Hand. »Ich mag keine Kokosnüsse«, sagte sie leichthin. »Aber hier in Waitangi bin ich fertig. Wollen wir morgen nach Norden fahren?«
    Der Ninety Mile Beach und Cape Reinga, einer der nördlichsten Plätze Neuseelands, boten fantastische Ausblicke auf sturmumtoste Klippen. Hier trafen sich der Pazifische Ozean und die Tasmanische See – für die 
pakeha
 ein spektakulärer Aussichtspunkt und ein Muss bei einer Reise über die Nordinsel, für die Maoris eine Art Heiligtum.
    Jack zuckte die Achseln. »Wird dir das wirklich nicht zu anstrengend, Liebling? Der Aufstieg ist steil, die letzten Meilen muss man zu Fuß gehen. Bist du sicher, dass du das schaffst? Ich weiß, du hattest seit drei Wochen keine ... Migräneanfälle mehr, aber ...«
    Er ließ unausgesprochen, was ihm trotz Charlottes offensichtlicher Energie Sorgen machte: Sie war weiterhin dünn, schien sogar noch mehr Gewicht zu verlieren, was kein Wunder war, da sie kaum etwas aß. Ihre Hände in seinen fühlten sich wie Feenfinger an, und wenn er sie nachts an sich zog, schien ihr Körper fiebrig heiß zu sein. Eine Bergtour war das Letzte, was er sich für sie wünschte, aber sie hatte mehrmals den Wunsch geäußert, speziell Cape Reinga zu besuchen.
    Charlotte lächelte. »Dann musst du mich eben tragen. Vielleicht können wir auch Pferde oder Maultiere mieten. Es soll dort doch Wildpferde geben, dann kommen sicher auch Reittiere hinauf. Der Leuchtturmwärter hat bestimmt ein Packtier, er braucht doch Verpflegung ...«
    Jack zog seine Frau an sich. »Gut, dann trage ich dich. Ist mir egal, was die Leute sagen. Habe ich dich übrigens in unserer Hochzeitsnacht über die Schwelle getragen? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern ... nicht an diese unwesentlichen Details.«
     
    Die letzte Siedlung der 
pakeha
 vor Cape Reinga war Kaitaia, ein kleiner Ort, in den sich nur dann Fremde

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