Der Ruf der Kiwis
verirrten, wenn sie den nördlichsten Teil der Insel erforschen wollten. Das Land hier war noch üppig grün, was Jack verwunderte. Er hatte mit grauer Berglandschaft gerechnet. Auch die Pfade rund um den Ort sahen nicht besorgniserregend aus. Jack nahm ein Zimmer in einer Pension und sprach mit dem Wirt über Reitpferde oder besser noch ein Gespann.
»Es sind noch ein paar Dutzend Meilen bis zu den Klippen«, meinte der Mann skeptisch. »Ich wäre mir nicht sicher, ob Ihre Lady sich so lange auf einem Pferd hält. Nehmen Sie besser einen Wagen. Aber damit kommen Sie wieder die letzten Meilen nicht hoch. Es ist mehr als anstrengend, Sir, Sie sollten sich überlegen, ob das bisschen Aussicht die Mühe wert ist.«
»Es ist mehr als ein bisschen Aussicht«, meinte Charlotte versonnen, als Jack ihr die Ansicht des Wirtes übermittelte. »Jack, so weit in den Norden kommen wir nie wieder! Mach dir keine Sorgen um mich, ich schaffe das schon!«
Und hier waren sie nun, nach langer Fahrt durch eine trostlose Felsenlandschaft, die allerdings mitunter durch atemberaubende Ausblicke in sandige Buchten oder auf lang gestreckte Strände unterbrochen wurde.
»Der Ninety Mile Beach«, sagte Jack. »Wunderschön, nicht? Der Sand ... ich habe gehört, man nutzt ihn zur Glasgewinnung. Das wundert nicht, er leuchtet jetzt schon wie Kristall.«
Charlotte lächelte. Sie sprach wenig auf dieser Fahrt, ließ nur die grandiose Landschaft, das Meer und die Berge auf sich wirken.
»Es muss einen Baum geben, einen
pohutukawa
. Er spielt in den Geschichten eine Rolle ...«
Jack runzelte die Stirn. »Bist du sicher? Sehr baumreich ist die Gegend nicht gerade.«
Der
pohutukawa
– von den
pakeha
auch Eisenholzbaum genannt – war ein rot blühender, immergrüner Baum, typisch für die Nordinsel. Jack und Charlotte hatten die Gewächse schon in Auckland bewundert.
»Am Cape ...«, meinte Charlotte vage. Dann verfiel sie wieder in Schweigen. Und auch während des Aufstiegs zu den Klippen schwieg sie. Der Wirt der Pension hatte Recht gehabt: Mit dem Gespann kam man nicht bis zum Leuchtturm; es lief auf eine anstrengende Wanderung hinaus. Aber Charlotte schien sie nichts auszumachen. Jack sah Schweißtropfen auf ihrem Gesicht, aber sie lächelte.
Erst nach mehreren Stunden kam der Leuchtturm in Sicht, das Wahrzeichen des Kaps. Jack hoffte, dass der Wärter sich über Gesellschaft freute, und tatsächlich lud er die Besucher zum Tee ein. Charlotte lehnte aber zunächst ab.
»Ich möchte den Baum sehen«, sagte sie leise, aber bestimmt. Der Leuchtturmwärter schüttelte den Kopf, wies jedoch in Richtung der Klippen.
»Da drüben. Ein ziemlich verkrüppeltes Ding allerdings, ich weiß nicht, warum die Eingeborenen solch ein Gewese darum machen. Es geht aber um irgendwelche Geister, und angeblich ist da ein Eingang in die Unterwelt ...«
»Und? Schon mal was gesichtet?«, scherzte Jack.
Der Wärter, ein bärtiges Raubein, zuckte die Achseln. »Ich bin ein guter Christ, Sir. Wenngleich meine Ahnen aus Irland kamen. Zu
samhain
lass ich die Türen verschlossen. Aber im Frühjahr ist das Wetter meist ohnehin so stürmisch, dass man keinen Geist vor die Tür jagen wollte, wenn Sie wissen, was ich meine, Sir.«
Jack lachte. Mit
samhain
, dem Allerheiligenfest, hatte seine Mutter ihm als Kind manchmal Angst gemacht. Dann waren die Tore zwischen Geister- und Menschenwelt angeblich nicht ganz geschlossen, und manchmal könnte man Gespenster sehen. Sein Maori-Freund Maaka, der diese Geschichten gehört hatte, aber nicht glaubte, hatte einmal versucht, ihn mit dem Klang der
pecorino
-Flöte aus dem Schlaf zu schrecken, aber natürlich schaffte der Junge es nicht, die Geisterstimme zu erwecken. Jack war deshalb nicht erschrocken, sondern nur von den unmelodischen Tönen gereizt. Das Ganze endete damit, dass Gwyneira einen Eimer Wasser über dem schaurigen Musikanten ausleerte.
Charlotte schaute versonnen über das Meer, während Jack mit dem Leuchtturmwärter plauderte.
»Gibt es hier oben Maori-Ansiedlungen?«, erkundigte sie sich schließlich.
»Meine Frau erforscht die Mythologie der Eingeborenen«, fügte Jack erklärend hinzu.
Der Wächter schüttelte den Kopf. »Keine festen in der nächsten Umgebung. Hier wächst ja nichts. Wovon sollten die Leute leben? Aber es lagern immer mal Stämme am Strand, fischen, machen Musik ... Zurzeit sind auch welche da. Die Maoris kommen nicht über den Landweg hier herauf, sie nehmen
Weitere Kostenlose Bücher