Der Ruf der Kiwis
sich nicht einsam, es gab andere Seelen, die mit ihr den Aufstieg teilten. Charlotte meinte, sie in Aufregung und Vorfreude tuscheln und lachen zu hören. Sie selbst empfand Bedauern, aber keine Angst. Der Aufstieg dauerte lange, aber für Charlotte schien die Zeit dahinzufliegen. Ab und zu hielt sie inne und sah hinunter auf das im Mondlicht kristallen funkelnde Meer. Irgendwo dort war Jack ... sie geriet in Versuchung, ihn in seinen Träumen zu berühren. Aber nein, es war besser, sie ließ ihn schlafen. Und das Lager der Maoris war längst außer Sicht. Charlotte folgte immer steileren, verschlungenen Pfaden, aber sie verlief sich nicht, sie trieb mit den Geistern. Schließlich tauchte der Leuchtturm vor ihr auf. Hier musste sie aufpassen, noch einmal zurück in die wirkliche Welt finden und sorgsam ihren Weg durch die Schatten suchen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass der Leuchtturmwärter jetzt nicht schlief, aber Charlotte wollte auf keinen Fall entdeckt und womöglich gezwungen werden, ihr Vorhaben aufzugeben. Sie wollte es aber auch nicht beschleunigen. Ihre Tat war etwas Wohlüberlegtes, beinahe Heiliges. Es sollte nicht in Hast geschehen.
Der sturmzerzauste
pohutukawa
-Baum war vom Leuchtturm aus nicht einzusehen. Charlotte entspannte sich. Sie sollte nun ein Tau aus Seetang winden, um sich zu ihm abzuseilen, aber hier war kein Seetang. Das war ihr auch zuvor schon seltsam erschienen, bei Irihapetis Geschichte. Sie musste irgendjemanden danach fragen.
Charlotte lächelte. Nein, sie würde keine Sagen mehr aufschreiben. Sie würde Teil der Legenden werden ...
Ein kleines Stück oberhalb des Baumes fiel die Klippe steil ab. Charlotte trat an den Rand. Unter ihr brandete das Wasser an einen kleinen Strand. Der Ozean dehnte sich vor ihr aus wie ein Meer aus Licht.
Hawaiki, dachte Charlotte. Das Paradies.
Dann flog sie.
Als Jack erwachte, herrschte Totenstille. Das war ungewöhnlich, schließlich waren sie inmitten eines ganzen Dorfes von Maoris eingeschlafen, und eigentlich sollte der Strand von Lachen und Plaudern, Kinderstimmen und dem Prasseln der Feuer erfüllt sein, an dem die Frauen Brotfladen buken.
Jack griff neben sich und stellte fest, dass Charlotte fort war. Seltsam, warum hatte sie ihn nicht geweckt? Er rieb sich die Stirn und kroch aus dem Zelt.
Sand und Meer. Fußspuren, aber keine Zelte. Nur eine alte Frau, Irihapeti, wie er sich erinnerte, saß am Strand und beobachtete das Anbranden der Wellen.
»Wo sind alle hin?« In Jack stieg Angst auf. Es war, als erwache er in einem seltsamen Albtraum.
»Sie sind nicht weit. Aber es ist besser für dich, heute allein zu sein. Tipene meinte, du würdest uns vielleicht zürnen. Und das sollst du nicht. Du sollst Frieden finden.« Irihapeti sprach langsam, ohne ihn anzusehen.
»Warum sollte ich euch zürnen?«, fragte Jack. »Und wo ist Charlotte? Ist sie bei den anderen? Was geht hier vor,
wahine?
«
»Sie wollte ihrem Geist den Weg zeigen.« Irihapeti wandte ihm endlich ihr Gesicht zu. Es war ernst und von Falten durchzogen. »Sie sagte mir, er fürchte sich vor der Trennung von ihrem Körper, weil es kein Hawaiki für ihn gäbe. Aber hier brauchte er nur den anderen zu folgen. Du hättest ihr nicht helfen können.«
Die alte Frau sah wieder aufs Meer hinaus.
In Jacks Kopf begann es zu arbeiten. Die Geister ... die Klippen ... die vagen Worte des Arztes ... Er hatte es nicht wahrhaben wollen, aber Charlotte wusste, dass sie sterben würde.
Nur nicht so! Nicht allein!
»Sie ist nicht allein«, sagte Irihapeti. Jack wusste nicht, ob sie seine Gedanken las oder ob er die letzten Worte laut ausgesprochen hatte.
»Ich muss sie suchen!«
Jack empfand ein überwältigendes Gefühl von Schuld, als er auf den Felsenweg zurannte. Wie hatte er schlafen können? Warum hatte er nichts bemerkt, nichts gefühlt?
»Du kannst auch hier auf sie warten«, sagte Irihapeti.
Jack hörte nicht hin. Er jagte den steilen Weg hinauf wie von Furien gehetzt, hielt nur manchmal inne, um Atem zu schöpfen. Für die Schönheit der Felsen und des Meeres hatte er keinen Sinn. Dabei war der Himmel bedeckt, und alles schien in einem seltsamen blauen Zwielicht versunken. Geisterlicht? Jack zwang sich, noch schneller zu gehen. Vielleicht holte er sie noch ein. Er hätte die alte Frau fragen sollen, wann Charlotte gegangen war. Aber wahrscheinlich wusste sie das auch nicht. Für Maori-
tohunga
verging die Zeit anders.
Als Jack endlich den Leuchtturm erreichte,
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