Der Ruf der Kiwis
schon.
Lustlos ging sie an Bord des Dampfers. Es hatte endlos gedauert, bis Kuras sämtliche Bühnenrequisiten in Kisten verladen an Bord gehievt worden waren, aber die Sängerin bestand darauf, das alles selbst zu überwachen. Dabei zeigte sich das Londoner Wetter noch einmal von seiner schlechtesten Seite. Es nieselte pausenlos, und Gloria sah aus wie eine nasse Katze, als sie endlich ihre Kabine in der Ersten Klasse betrat. Sie teilte sie mit Tamatea, was immerhin eine Erleichterung darstellte. Junge Tänzerinnen reisten nicht mit der Truppe. William hatte das Ensemble nach dem letzten Konzert verabschiedet, in New York würde man ein neues anwerben. »Kommst du auf die Brücke, Gloria?«
Gloria hatte gehofft, in der Kabine ihre Ruhe zu haben, doch wie es aussah, ließ der Kapitän es sich nicht nehmen, Kura-maro-tini und ihre Familie sofort selbst an Bord willkommen zu heißen. Da er so kurz vor der Abfahrt nicht abkömmlich war, empfing er sie auf der Brücke und überschüttete die Frauen mit tausend Informationen über ein Hochseeschiff. Gloria musste daran denken, dass dies alles sie vor ein paar Jahren noch brennend interessiert hatte, aber jetzt sah sie nur, dass der Käpt’n ihr dabei keinen Blick gönnte. Er sprach einzig und allein zu Kura-maro-tini, die sich zweifellos langweilte, ihm aber in der Manier einer Königin lauschte. Der Regen und der Wind taten ihrer Schönheit keinen Abbruch. Im Gegenteil, es ließ sie rührend, aber auch aufregend wirken, wenn der Sturm an ihrem Haar riss.
»Und das ist Ihre Tochter?«
Die übliche Bemerkung, die übliche Verwunderung im Gesicht des Käpt’ns. Gloria senkte die Augen und wünschte sich weit fort ...
Die Überfahrt von London nach New York verlief ruhig. Ein paar Passagiere ängstigten sich zwar wegen des Krieges, und das Bild in den Häfen wurde von Männern in Marineuniformen beherrscht. Auf See jedoch begegnete ihnen kein Kriegsschiff mehr, nachdem sie den Ärmelkanal verlassen hatten. So wich die beklommene Stimmung, die London so kurz nach Kriegsausbruch beherrscht hatte, bald lebhaftem und unbeschwertem Bordleben. Zumindest in der Ersten Klasse feierte man. Wie es auf dem Zwischendeck aussah, wo arme Auswanderer und Kriegsflüchtlinge zusammengepfercht dem Ende der Reise entgegenfieberten, wusste Gloria nicht. Die First Class und die Zwischendeckpassagiere blieben strikt getrennt – was den Erzählungen von Grandma Gwyn und Elizabeth Greenwood von ihrer eigenen Auswanderung nach Neuseeland widersprach. Bei den monatelangen Überfahrten auf noch ziemlich unsicheren Segelschiffen hatte es zwangsläufig Kontakte gegeben. Grandma Gwyn hatte von gemeinsamen Gottesdiensten und sogar Vergnügungen erzählt.
Gloria genoss die Seereise, soweit sie willig und fähig war, irgendetwas zu genießen. Die abendlichen Bankette, die Deckspiele und anderen Lustbarkeiten im Kreise der Passagiere langweilten sie, aber wie schon bei der Fahrt von Lyttelton nach England beruhigte sie der Blick auf die endlose Weite des Meeres. Stundenlang saß sie alleine an Deck und schaute hinunter in die Wellen, sie freute sich, wenn Delfine oder Wale das Schiff begleiteten.
Glorias Eltern ließen sie weitgehend in Ruhe. Kura genoss ihren Starruhm unter den Passagieren, William trank mit Lords und tanzte mit Ladys wie mit seinesgleichen. Der Kapitän bestürmte Kura, für seine Passagiere und Offiziere zu singen, und schließlich gab sie dem Drängen nach. Natürlich wurde das Konzert ein voller Erfolg – und Gloria durchlitt das übliche Spießrutenlaufen.
»Und das Töchterchen macht auch Musik? Nein? Wie schade! Aber Sie müssen stolz auf Ihre Mutter sein, Miss Martyn!«
Noch ein Satz, den Gloria in diesen Tagen zu hassen lernte, lautete: »Gloria ist noch sehr kindlich.« Kura und William entschuldigten damit, dass Gloria wenig zu den Tischgesprächen beitrug und nicht tanzen mochte, wenn die Schiffskapelle allabendlich aufspielte.
Schließlich gab sie beim Dinner mit dem Kapitän dem Drängen eines jungen Maats nach, stand ihm aber nur auf den Füßen. Oaks Garden unterrichtete zwar neuerdings Gesellschaftstanz, allerdings erst im letzten Schuljahr. Zu spät für Gloria.
»Wie können die Leute hier leben?«, fragte Tamatea, als das Schiff Ellis Island passierte und endlich New York in Sicht kam. »Die Häuser sind zu hoch, um den Himmel zu sehen. Der Boden ist versiegelt, das Licht künstlich. Und der Lärm ... die Stadt ist erfüllt von Lärm, ich höre
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