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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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war es Mittag, aber die Sonne war immer noch nicht ganz aufgegangen. Der Wärter begrüßte ihn fröhlich – bis er sah, in welchem Zustand er sich befand. Von Charlotte gab es keine Spur.
    »Es gibt Dutzende mögliche Stellen«, meinte der Leuchtturmwärter mitfühlend, als Jack ihm in kurzen, unzusammenhängenden Worten seine Befürchtung geschildert hatte. »Direkt an diesem Baum würde ich nicht springen. Da geht es nicht ganz steil abwärts. Aber gleich darüber. Und etwas links davon ... wie gesagt, Sie können höchstens nach Fußspuren suchen. Aber vielleicht regen Sie sich ja ganz grundlos auf. Diese Maori-Großmütter erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Vielleicht ist die kleine Lady ganz wohlbehalten bei ihren Freunden. So zart und schwach wie sie aussah, ist sowieso kaum zu glauben, dass sie den schweren Aufstieg geschafft hat.«
    Jack ging zu den Klippen oberhalb des 
pohutukawa
–Baumes. Hier musste es gewesen sein, er schien Charlottes Präsenz noch zu spüren. Aber nein, das konnte nicht sein. Ihre Seele sollte längst Ohaua erreicht haben ...
    Jack schickte den Inseln einen stummen Gruß. Er wusste nicht, weshalb er keine Verzweiflung empfand, aber da war nur Leere in ihm, schreckliche, eiskalte Leere.
    Wie in Trance stieg er den Weg wieder hinab. Wenn er jetzt stolperte ... Aber Jack stolperte nicht. Er war nicht bereit für Hawaiki, noch nicht. Ließ er sie damit im Stich? Jack konnte nicht einmal denken. Da war nur diese Kälte und Dunkelheit in seinem Kopf, obwohl seine Augen endlich die Sonne hinter Wolkenbänken hervorkommen sahen und seine Füße den Pfad sicher ertasteten.
     
    Irihapeti wartete immer noch, als der Strand wieder in Sicht kam, aber als Jack die Füße auf den Sand setzte, schien die alte Frau etwas zu erkennen.
    »Komm, 
tane!
«, sagte sie ruhig und watete ins Wasser.
    Es war schwer für sie, gegen die Brandung anzugehen, Jack war stärker. Er holte sie schnell ein, und jetzt sah auch er es. Ein weites blaues Kleid, aufgebauscht von den Wellen. Langes blondes Haar, mit dem die Brandung spielte.
    »Charlotte!« Jack rief ihren Namen, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht hören konnte. Er verlor den Boden unter den Füßen, begann zu schwimmen.
    »Du kannst einfach warten«, sagte Irihapeti. Sie blieb weiter vorn im Wasser stehen.
    Jack umfasste den Körper seiner Frau, kämpfte mit dem Meer, um ihn schwimmend an Land zu bringen. Er war außer Atem und am Ende seiner Kräfte, als er Irihapeti erreichte. Sie half ihm wortlos, Charlotte an Land zu tragen. Sie betteten sie auf eine Decke, die Irihapeti ausgebreitet hatte.
    Jack schob das Haar aus dem Gesicht seiner Frau – und sah zum ersten Mal seit langer Zeit den Ausdruck vollkommenen Friedens. Charlottes Körper war frei von Schmerzen. Und ihre Seele folgte dem Weg der Geister ...
    Jack zitterte.
    »Ich friere«, sagte er leise und unvermittelt. Dabei war es ein warmer Tag, die inzwischen aufgegangene Sonne trocknete bereits seine Kleidung. Irihapeti nickte. »Es wird lange dauern, bis die Kälte geht.«
     

6
    »Ist das denn ein 
haka?
«
    Gloria stand neben Tamatea hinter der improvisierten Bühne im Ritz und lauschte Kura-maro-tinis vorläufigem Abschiedskonzert im alten Europa. William hatte die Künstlerin vorher groß angekündigt und nochmals betont, dass die Erlöse Kriegswaisen zugute kämen. Die gab es inzwischen wohl auch in England. Amerika blieb vorerst neutral.
    Marisa war wieder halbwegs auf dem Damm und hatte Kura eben virtuos durch die Ballade begleitet, an der Gloria sich am Vortag erfolglos versucht hatte. Das Mädchen hätte das Stück nicht wiedererkannt – Marisa brachte das Klavier neben der Geisterstimme der 
picorino
 zum Flüstern und vermittelte zwischen dem stampfenden Rhythmus des Kriegstanzes im Hintergrund und der von Kura vorgetragenen Ballade. Die Komposition war ein filigranes Kunstwerk und der Applaus entsprechend laut. In den Maori-Dörfern um Kiward Station hatte Gloria jedoch niemals etwas Vergleichbares gehört, und der nun folgende 
haka
 erschien ihr auch nicht authentischer. Nun hätte sie nie von sich behauptet, etwas von Musik zu verstehen, aber die 
haka
 der Maoris hatte sie immer recht eingängig gefunden. Als Kind hatte sie lachend mitgetanzt, wenn ihre Großmutter Marama sie in den Kreis zog, oder vergnügt die Trommeln geschlagen. Man konnte da kaum Fehler machen; die Rhythmen erschlossen sich auch Menschen mit wenig musikalischem Talent. Hier jedoch sah sie

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