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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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ihn bis hierher. Das vertreibt die Geister. Die Menschen müssen ruhelos sein, entwurzelt ...«
    Gloria hatte diesen Eindruck eigentlich schon von London gehabt, doch die alte Maori hatte Recht. New York war noch größer, noch lauter, noch unübersichtlicher, und wäre Gloria ein Geist gewesen, wäre sie lieber heute als morgen geflohen.
    »Es gibt einen riesigen Park in der Mitte der Stadt, da gibt es sogar hohe Bäume«, meinte Kura ungeduldig. Sie brannte darauf, das Schiff zu verlassen und diese neue, besondere Stadt in Besitz zu nehmen. Wobei sie nicht daran zweifelte, dass es ihr gelingen würde. Ihr Konzertveranstalter hatte Depeschen aufs Schiff geschickt. Das Interesse an ihren Auftritten war enorm. Die ersten Abende waren bereits ausverkauft. Vorher war allerdings noch einiges zu tun, und Kura brannte vor Tatendrang. Selbstverständlich fuhren die Martyns mit einem der neuen Automobile zu ihrem Hotel, dem Waldorf Astoria. Gloria gefiel weder das ratternde Gefährt, in dem sich Tamatea regelrecht zu fürchten schien, noch die einschüchternde Eleganz der Hotellobby. Immerhin erregte sie kein Aufsehen. Die Hotelbediensteten zollten Kuras auffallender Schönheit zwar Aufmerksamkeit, erkannten die Berühmtheit aus Europa jedoch noch nicht und fragten erst recht nicht danach, ob ihre Tochter ihr ähnlich sah. Gloria bezog ein Zimmer in der Suite ihrer Eltern, stellte aber zu ihrer Erleichterung fest, dass man die neuen Ensemblemitglieder nicht hier vorsprechen und vortanzen ließ. Dafür hatte William einen Raum im nahen Theaterviertel anmieten lassen.
    Tamatea hatte dabei zu sein, wenn sich die jungen Tänzer vorstellten, und so war Gloria in ihren ersten Tagen in New York weitgehend auf sich allein gestellt. William und Kura schlugen ihr vor, Museen oder Galerien zu besuchen. Das wäre auch für ein einzelnes junges Mädchen schicklich, zumal das Hotel für ein Automobil sorgen würde, das Gloria hin- und zurückbrachte. Gehorsam ließ Gloria sich folglich zum Metropolitan Museum of Art fahren. Desinteressiert betrachtete sie jene Gemälde, für die man sie seit sechs Jahren zu begeistern versuchte, an die sie aber immer noch die falschen Fragen stellte. Interessanter fand sie Waffen und Musikinstrumente aus verschiedenen Erdteilen. Die Artefakte von den Pazifischen Inseln erinnerten sie an die Arbeiten der Maoris, und sie fand den Anblick beinahe anheimelnd. Dennoch war das alles zu viel für Gloria. Sie wusste nicht, was sie in dieser Stadt tat; es gab nichts, was sie hier suchte. Schließlich floh sie, entdeckte den Eingang zum Central Park und verlor sich in den weitläufigen Gärten. Immerhin sah man dort die Erde und den Himmel. Aber den Horizont begrenzten die Hochhäuser Manhattans. Über New York lag eine Dunstglocke; es war Herbst, und der Wind wehte rubinrote Blätter durch den Park. Auf Kiward Station war jetzt Frühling. Wenn Gloria die Augen schloss, sah sie frisch geschorene Schafe auf regengrünen Weiden, bereit für den Auftrieb ins Hochland in Richtung der Alpen, sah deren schneebedeckte Gipfel, die durch kristallklare Luft zu den Farmen hinübergrüßten. Jack würde mit den Tieren reiten, vielleicht begleitet von seiner Frau Charlotte. Grandma Gwyn schrieb, die Ehe sei glücklich. Aber wie konnte auch jemand unglücklich sein auf Kiward Station?
    Als Gloria endlich zurück zum Museum kam, wartete ihr Wagen bereits. Der Fahrer war in heller Aufregung, da sie die Zeit verpasst hatte. William machte ihr deshalb Vorwürfe, als sie im Hotel eintrafen, obwohl die Martyns sich ganz sicher keine Sorgen um ihre verloren gegangene Tochter gemacht hatten. Dafür waren sie zu sehr mit den Proben dieses Tages beschäftigt. Sie stritten sich wegen zwei oder drei Tänzerinnen, die entweder für William zu wenig Haut zeigen wollten oder für Kura zu wenig Gefühl für Rhythmus besaßen. Tamatea fand die Mädchen durchweg zu dünn, um Maori-Frauen darzustellen, was Gloria seltsam fand; schließlich waren die meisten Maori-Mädchen schlank.
    Am nächsten Tag, als sie den Proben beiwohnte, verstand sie allerdings, was die alte Tänzerin meinte. Die Bewerberinnen hatten sämtlich die sehnigen Körper von Balletttänzerinnen und waren groß und langgliedrig. Maori-Frauen waren kompakter, ihre Hüften breiter, die Brüste schwerer. Dafür aber bewegten diese Mädchen sich mühelos, wie es wohl auch Mata Hari bei ihren Aufführungen tat, und an der schienen die Martyns sich orientieren zu wollen. Sie stellten

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