Der Ruf der Kiwis
leichte Schmerz zog in den Arm hinauf. Vielleicht, dachte James, sollte ich doch nicht reiten. Aber, zur Hölle! Wie pflegte Gwyn zu sagen? Wenn man nicht mehr reitet, ist man tot.
James gab die Hilfen zum Antreten, und der Schimmel folgte ihnen lebhaft. Er trabte auf die Straße nach Christchurch.
»Wirklich? Ich darf die Zügel halten?«
Lilian hatte das Reiten tatsächlich nicht verlernt. Schließlich war sie fast jedes Wochenende bei einer ihrer vielen Freundinnen zu Gast gewesen, die zu einem großen Teil dem Landadel angehörten, und selbstverständlich hatte es dort Pferde gegeben. Im letzten Herbst hatte Lily sogar an zwei Fuchsjagden teilgenommen, was ihre Urgroßmutter gebührend beeindruckte. Kutschiert hatte sie jedoch noch nie, und die Stute vor Gwyns Wagen war keineswegs eine langweilige Mähre. Die »flotte Fahrt« war nicht zu viel versprochen.
»Aber sicher, es ist ganz ähnlich wie beim Reiten. Du darfst nur nicht ins Ziehen geraten, dann scheinen die Leinen immer länger zu werden, aber auf das Pferd macht es keinen großen Eindruck.« Gwyn erklärte und freute sich über Lilians Interesse.
»Viele Leute kaufen ja jetzt Automobile«, wandte sie sich schließlich an Elaine, während Lily konzentriert die Zügel führte. »Aber ich kann mich mit dem Gedanken nicht anfreunden. Natürlich habe ich es mal versucht. Schwer zu fahren sind sie eigentlich nicht ...«
»Du hast ein Auto gefahren?«, lachte Elaine. »Du selbst?«
Gwyn sah sie vorwurfsvoll an. »Warum denn nicht? Ich hab meine Wagen noch allemal selbst gelenkt! Und glaub mir, gegen einen Cobhengst ist ein Automobil eine lahme Ente!«
Elaine lachte wieder. »Wir haben neuerdings auch eins«, berichtete sie. »Nachdem Florence Biller stolz mit so einem Ding vorfuhr, konnte Tim nicht widerstehen. Völliger Unsinn. Er selbst kann es gar nicht fahren mit seinen Beinschienen, das Einsteigen fällt ihm auch schwer, und über die Federung reden wir gar nicht, die ist Gift für seine Hüfte. Aber das würde er niemals zugeben. Roly ist natürlich hellauf begeistert von dem Gefährt – vor Pferden hat er sich ja immer ein bisschen gefürchtet – und die Jungs genauso. Ein Spielzeug für Männer. Aber wenn sich das durchsetzen soll, müssen sie bessere Straßen bauen.«
Lilian hatte das Pferd inzwischen gut unter Kontrolle. Sie ließ es lebhaften Trab gehen. Die Meilen schmolzen nur so dahin unter den Hufen der braunen Stute.
James sah die Stute herantraben. Das sah Gwyn ähnlich ... immer volles Tempo, und Igraine machte das gerne mit. Moment, war das Igraine ...? Er dachte verschwommen daran, dass dieses Pferd einen anderen Namen haben musste. Die Stute Igraine war damals mit Gwyn aus Wales gekommen. Sie konnte nicht mehr am Leben sein ...
Aber da war sie doch ... dieser markante Kopf, die hohen Bewegungen im Trab, die lange, im Wind wehende Mähne. Und Gwyn auf dem Bock ... ein so schönes Mädchen ... wie jung sie war ... und dieses rote Haar, der wache Ausdruck, das Strahlen in ihrem Gesicht, die pure Freude an der raschen Fahrt und dem willigen Pferd.
Gleich würde sie ihn sehen. Gleich würden ihre Augen aufleuchten, wie sie es immer getan hatten. Auch in der Zeit, in der sie geleugnet hatte, ihn zu lieben. Die vielen Jahre, in denen sie seine Tochter als das Kind eines anderen großzog, den sie nicht betrügen wollte. Ihre Augen hatten sie immer verraten ...
James hob den Arm, um zu winken. Zumindest wollte er das tun. Aber der Arm gehorchte ihm nicht ... und dieser Schwindel ...
Gwyn sah den Schimmel herantraben. Und zuerst glaubte auch sie an ein Trugbild. James, auf seinem alten Pferd. Wie damals, wenn er ihr und Fleurette entgegengeritten war, weil sie länger ausgeblieben waren. Er hatte sich immer Sorgen um sie gemacht. Aber jetzt ... er sollte nicht reiten, er ...
Gwyneira sah James schwanken. Sie rief Lilian zu, den Wagen anzuhalten, aber er fiel bereits herunter, als es dem Mädchen gelang, die Stute zu stoppen. Der Schimmel blieb brav neben ihm stehen.
Elaine wollte ihrer Großmutter helfen, aber Gwyneira wehrte sie ab. Sie sprang fast aus ihrer Chaise und eilte zu ihrem Mann.
»James! Was ist denn, James?« In ihren Schrecken mischte sich Angst.
»Gwyn, meine wunderschöne Gwyn ...«
James McKenzie starb in den Armen seiner fast achtzigjährigen Gwyneira, doch vor seinen Augen stand das Bild der walisischen Prinzessin, die sein Herz vor so vielen Jahren gewonnen hatte.
Gwyneira flüsterte nur seinen
Weitere Kostenlose Bücher