Der Ruf der Kiwis
Namen.
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Gloria erfuhr erst Wochen später von den Todesfällen in ihrer Familie. Der Postweg von Neuseeland in die Staaten war kompliziert, und obendrein gingen die Briefe an Kuras Konzertagentur in New York. Die musste die Künstlertruppe dann erst aufspüren und die Briefe an sie weiterleiten. Diesmal erreichte die Post sie in New Orleans, einer quirligen Stadt, die Kura-maro-tini geradezu elektrisierte. Auf den Straßen machten dunkelhäutige Menschen irritierend andersartige Musik, und wenn Kura nicht selbst auftrat, zog sie mit William durch die Nachtklubs des French Quarters, hörte jene seltsame Musik, die man Jazz nannte, und tanzte.
Die traurigen Nachrichten aus der alten Heimat interessierten sie dagegen kaum. Weder William noch Kura hatten Charlotte gekannt, und James McKenzie hatte keiner von ihnen sonderlich freundliche Gefühle entgegengebracht, was auf Gegenseitigkeit beruhte. So nahmen sie den Inhalt von Elaines Brief gelassen zur Kenntnis. Gwyneira hatte sich nach dem Tod ihres Mannes nicht imstande gefühlt, die Nachricht weiter zu verbreiten, und so schrieb Elaine an ihre Verwandten. Sie adressierte den Brief an »Familie Martyn«. Gesondert an Gloria zu schreiben erschien ihr überflüssig. Gloria erfuhr deshalb nicht einmal Einzelheiten. Kura teilte ihr fast nebenbei mit, dass ihr Urgroßvater gestorben war, und zeigte sich erstaunt über ihre Trauer.
»Weinst du, Glory? Er war nicht mal dein richtiger Großvater. Und er war sehr alt, über achtzig. Das ist der Lauf der Welt ... Aber ich kann diesen Trauer-
haka
heute Abend singen. Ja, das passt auch zu New Orleans ... ein bisschen morbid ...«
Gloria wandte sich ab. So würde nun also auch der Tod ihres Großvaters dazu missbraucht werden, Sympathien für Kura zu werben. Obwohl der
haka
schön war. Er stammte noch aus Kuras erstem Programm und klang ziemlich authentisch – beinahe so, als trauerten hier Maoris und
pakeha
gemeinsam um einen geliebten Menschen. Tamatea sprach Gloria ihr Beileid aus.
»Er war ein guter Mensch. Die Stämme haben ihn immer geschätzt.«
Gloria dankte ihr abwesend. Sie überließ sich nur dann ihrer Trauer, wenn sie allein war, was selten genug vorkam. Auf der Reise war das Leben beengt, und wenn Gloria auch in den Hotels die Suiten ihrer Eltern teilte, so brachte man sie doch während der schier endlosen Zugfahrten gemeinsam mit den jungen Tänzerinnen unter. Eine von ihnen war schöner als die andere, alle »moderne junge Frauen«, die stolz darauf waren, ihr eigenes Geld zu verdienen, ungebunden und frei zu sein. Die schwerfällige, scheue Gloria erschien ihnen wie ein Relikt vergangener Zeiten, und sie neckten sie mit ihrer englischen Internatserziehung und ihrer Prüderie.
In Bezug auf Letzteres wusste Gloria nicht einmal genau, was man ihr vorwarf. Tatsächlich ging sie Männern keineswegs aus dem Weg und schlug schüchtern die Augen nieder, wie die Mädchen lachend behaupteten. Gloria vermied den Blickkontakt mit beiden Geschlechtern und sprach niemanden an. Wandte jemand die Rede an sie, fuhr sie zusammen – auch dies unabhängig davon, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Sicher fühlte sie sich lediglich bei Tamatea, aber auch die fiel ihr zusehends auf die Nerven.
»Sieh doch nur das Land,
mokopuna!
Der Fluss ... wie nennt man ihn? Mississippi? Ein seltsames Wort. Aber sieh nur, wie träge er fließt, hör auf seine Stimme ...«
Die Maori-Frau wurde nicht müde, die für sie fremdartigen Pflanzen in diesem warmen, feuchten Klima zu bewundern und zu berühren. Sie staunte über die endlosen Baumwoll- und Zuckerrohrfelder und versuchte, Gloria dafür zu begeistern. In New Orleans fand sie dann sogar eine Freundin, eine dicke Schwarze, mit der gemeinsam sie Voodoo-Geister beschwor und Lieder sang, deren Rhythmen dem ursprünglichen
haka
näher kamen als Kuras filigrane Arrangements. Aber Gloria war längst fest entschlossen, nichts an diesem fremden Land zu mögen. Sie schaute lieber in ein Buch als durch die Fenster der Züge, die schließlich Louisiana und die anderen Südstaaten hinter sich ließen und in die endlosen Prärien des Westens vorstießen. Tamatea sah mit Sorge, wie das Mädchen immer tiefer in einem Strudel aus Selbsthass und Selbstmitleid versank. Dabei hätte ihr dieses Land gefallen können. Gut, es war nicht grün wie die Canterbury Plains; das Gras war eher sonnenverbrannt. Doch im Hintergrund schimmerten rote und blaue Berge. Es gab Pferde und
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