Der Ruf der Kiwis
Tamatea gleich eine New Yorker Ballettmeisterin zur Seite – zumindest drückten sie es so aus. Tamatea war verärgert darüber, und so herrschte dicke Luft in der Compagnie.
Gloria verbrachte die nächsten Tage zumeist auf ihrem Zimmer. Sie hatte keine Lust auf die ewigen Streitereien, bei denen jeder versuchte, sie auf seine Seite zu ziehen. Dabei hatte Gloria eigentlich keine Meinung. Es war lange her, seit Grandma Gwyn sie lachend ihre »kleine
tohunga
« genannt hatte, womit sie auf Glorias Wissen über Schafe und Pferde anspielte. Lustlos schrieb sie einen Brief nach Kiward Station.
New York ist riesig. Unser Hotel ist modern und sehr schön. Wir haben ein Automobil zur Verfügung, das mich überallhin bringt, wohin ich möchte. Meine Eltern arbeiten sehr viel. Ich bin meist allein.
Gloria las den Brief noch einmal durch und strich dann den letzten Satz.
George Greenwood konnte Lilian nicht bis nach Greymouth begleiten. Auf ihn warteten dringende Geschäfte in Christchurch – und die Nachricht vom Tod seiner Tochter Charlotte. Gwyneira McKenzie, die ihre Urenkelin gleich in Lyttelton abholte, bestellte ihm mit ernstem Ausdruck, dass Elizabeth ihn im Hotel erwarte. Lyttelton, bei Gwyns Ankunft über sechzig Jahre zuvor noch eine winzige Ansiedlung, war inzwischen zu einer richtigen Stadt mit allen Annehmlichkeiten angewachsen.
George verabschiedete sich kurz von seiner jungen Reisebegleitung und machte sich auf den Weg zu seiner Frau. Gwyneira sah ihm bedauernd nach. Auch sie war in Trauer, wollte Lilian aber nicht die Ankunft verderben. So trug sie nicht einmal Schwarz, sondern nur Kleider in gedeckten Farben.
Lilian bemerkte ihre gedämpfte Stimmung nicht. Sie war aufgedreht und glücklich, wieder heimzukommen, und sie strahlte, als Gwyn ihr eröffnete, sie würde ihre Mutter heute noch sehen. Elaine hatte das Warten nicht mehr ausgehalten. Sie kam mit dem Nachtzug aus Greymouth; Lilian und Gwyn würden sie gleich abholen. Danach sollten Mutter und Tochter noch ein paar Tage auf Kiward Station verbringen.
»Und Daddy?«, fragte Lilian. »Der kommt nicht mit?«
»Offensichtlich unabkömmlich«, bemerkte Gwyn. »Der Krieg. Aber jetzt komm, wir lassen dein Gepäck mit dem Fährdienst nach Christchurch bringen.«
»Ich sage jetzt nicht, du bist groß geworden!«, neckte Elaine ihre Tochter, nachdem sie das Mädchen endlich aus ihren Armen ließ. Lily und Gwyn hatten den Bahnhof rechtzeitig erreicht und die Ankunft des Zuges ungeduldig erwartet. »Das war schließlich anzunehmen.«
»Ich bin gar nicht groß!«, protestierte Lilian. »Nicht mal so groß wie du.« Das stimmte. Lilian war nach wie vor klein und feenhaft, sah ihrer Mutter aber sonst sehr ähnlich. Auch Gwyn meinte bei ihrem Anblick in einen Zauberspiegel zu sehen. Abgesehen von der Augenfarbe und davon, dass ihr Haar glatter war und einen anderen Rotton aufwies, glich Lilian vollständig dem Mädchen, das sie selbst mit fünfzehn gewesen war.
»Ich erwarte geistige Größe!«, scherzte Elaine. »So viele Jahre englisches Internat. Du solltest ein wandelndes Lexikon sein!«
Lilian verzog das Gesicht. Anscheinend machte man sich hier falsche Vorstellungen von Mädchenbildung in Oaks Garden, aber letztlich war das egal. Niemand würde sie abfragen.
»Reiten kann sie jedenfalls noch«, meinte Grandma Gwyn gespielt fröhlich.
Die alte Dame wirkte angestrengt und schien seit Elaines letztem Besuch stark gealtert. Elaine drückte ihr stumm die Hand. Sie hatte kurz vor ihrer Abfahrt von Jacks und Charlottes Tragödie erfahren.
»Ist Jack noch im Norden?«, fragte sie leise.
Gwyn nickte. »Elizabeth möchte Charlotte überführen lassen, aber wie sie das anstellen sollen, wissen wohl beide nicht. Sie haben auf George gewartet – was muss das für eine Heimkehr für ihn sein!«
»Kein Telegramm aufs Schiff?«
»Hätte das etwas geändert? Elizabeth wollte es ihm selbst sagen ...« Gwyneira brach mit einem Seitenblick auf Lilian ab.
»Ist irgendwas?«, fragte das Mädchen.
Elaine seufzte. »Dein Onkel Jack ist in Trauer, Lily, und auf Onkel George wartet ebenfalls eine schlechte Nachricht. Seine Tochter Charlotte, Jacks Frau, ist gestorben ...«
Gwyneira betete, dass Lilian nicht nach den näheren Umständen fragte, aber dem Mädchen schien Charlottes Verlust ziemlich egal zu sein. Lily kannte Jack nur flüchtig, seine Frau hatte sie nie kennen gelernt. Insofern bekundete sie auch nur kurz ihr Bedauern und begann dann
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