Der Ruf der Pferde
seichter Musikberieselung und aufreizend-fröhlichen Werbedurchsagen aus den Lautsprechern. Und am meisten nervten sie die vielen Menschen.
Sie war froh, als das gute halbe Dutzend prall gefüllter Plastiktüten mit den Einkäufen endlich im Kofferraum des Wagens verstaut war und ihre Mutter den Motor anließ. Patricia lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sie sehnte sich nach der Ruhe und dem Frieden in ihrem Zimmer, so schnell würde sie sich bestimmt nicht mehr zum Einkaufen überreden lassen.
Erst als das Auto auf Kopfsteinpflaster einbog, schreckte Patricia hoch. Wo um Himmels willen fuhr ihre Mutter denn hin? Nirgendwo auf dem Heimweg gab es Kopfsteinpflaster!
Und dann der Geruch, der durch die heruntergelassenen Scheiben hereinwehte – dieser warme, durchdringende Geruch nach Pferden!
Sie riss die Augen auf und erstarrte.
Das Erste, was sie sah, war Chestnut. Die braune Stute wurde gerade von einem jüngeren Mädchen aus dem Stall geführt. Die beiden wichen Helen aus, die mit einem Schubkarren voll Heu hineinwollte. Aus dem Gebäude schallte Pferdegewieher.
Patricia richtete sich kerzengerade auf dem Beifahrersitz auf.
»Was soll das?«, flüsterte sie. »Was machen wir hier? Du hast nichts davon gesagt, dass wir zum Stall fahren!« Ihre Stimme wurde lauter und sie spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten und ihr Gesicht heiß wurde. »Ich mag nicht hierher! Dreh sofort rum, ich will nach Hause!«
»Patricia, bitte!« Mrs Mackintosh stellte den Motor ab und lehnte sich über das Lenkrad. »Es geht so nicht mehr weiter. Du kannst dich nicht für immer zu Hause vergraben!«
»Aber ich will nicht in den Stall!« Patricia schrie nun fast. Ihr Herz klopfte wild und sie blickte sich beinahe panisch um. Noch hatte keiner sie entdeckt, aber die Gefahr, dass Helen wieder aus dem Stall herauskam und sie sah, war groß.
Wie konnte ihre Mutter sie nur so verraten!
»Patricia, sei doch vernünftig!« Ihre Mutter blickte sie flehend an. »Du bist so gerne hier gewesen, magst die Pferde so gern, das kann doch nicht alles vorbei sein!«
»Hattest du das geplant?«, fragte Patricia stattdessen.
Ihre Mutter zögerte.
»Na ja, dein Vater und ich haben uns Sorgen gemacht und da dachten wir . . .«
»Was habt ihr euch gedacht?«, fauchte Patricia. »Dass ihr’s jetzt auf diese Weise probiert, nachdem ihr das mit dem Psychoonkel nicht durchsetzen konntet?«
»Nein, Patricia, das siehst du falsch! Wir wollten dir nur helfen! Wir dachten, wenn du das alles hier wieder siehst, den Stall, die Pferde, kriegst du vielleicht wieder Lust zu reiten.«
»Ihr habt doch sonst immer gemeckert, dass ich zu viel im Stall herumhänge«, sagte Patricia zynisch. »Seid doch froh, dass ich es nicht mehr tue!«
»Aber doch nicht so«, widersprach ihre Mutter. »Ich weiß, dass du das nicht so meinst, Patsy. Du bist durcheinander und furchtbar traurig, aber das geht irgendwann wieder vorbei, glaub mir. Du kannst doch jetzt nicht alles aufgeben, das Reiten und die Pferde haben dir doch immer so viel bedeutet!«
Patricia gab keine Antwort. Sie starrte auf den Hofplatz.
Dort, genau dort hatte Gavin ihr vor dem letzten Turnier beim Verladen von Goldie geholfen. Und weiter hinten, beim Misthaufen, hatten sie noch vor wenigen Monaten eine Rauferei veranstaltet, weil Gavin sie wegen eines Risses in ihrer Reithose gehänselt hatte. Am Ende hatten sie sich beide ausgeschüttet vor Lachen, waren völlig außer Atem und über und über mit Stroh und Pferdemist bedeckt gewesen. Obendrein hatten sie ordentlich Schelte von Helen geerntet, weil sie sich gegenseitig mit Pferdeäpfeln beworfen hatten. Hinterher mussten sie gemeinsam den ganzen Hof fegen, weil Helen meinte, es sei schließlich ein Pferde-und kein Schweinestall, und wer den Dreck verursache, solle ihn auch wieder beseitigen. Aber, wie Gavin sagte, das war der Spaß wert gewesen.
»Bitte, Patricia«, sagte ihre Mutter wieder und riss Patricia damit aus ihren Gedanken. »Steig wenigstens mal aus. Du musst ja nicht reiten, wenn du nicht willst. Dein Pferd freut sich bestimmt, wenn du es mal wieder besuchst. Wer kümmert sich momentan eigentlich darum?«
Patricia rührte sich nicht und gab auch keine Antwort. Ihre Hände krampften sich um den Autositz, als wolle sie sich daran festhalten. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Stalltür sich wieder öffnete und Helen heraustrat. Und, wie nicht anders zu erwarten, entdeckte die Reitlehrerin sofort das Auto. Helens
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