Der Ruf der Pferde
verstehst du das nicht?«
Patricia gab keine Antwort.
»Wir haben für dich einen Termin bei Dr. Duncan vereinbart«, sagte Mr Mackintosh. »Er wird dir helfen, das Ganze besser verarbeiten zu können.«
»Was ist das für ein Doktor?« Patricia ahnte Böses.
»Ein sehr guter Psychotherapeut«, antwortete ihre Mutter. »Er ist uns empfohlen worden, ein Spezialist für posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen.«
»Ein Seelenklempner?« Patricia war fassungslos. »Denkt ihr jetzt, ich bin bekloppt oder was?«
»Unsinn!« Ihr Vater bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Das hat mit bekloppt gar nichts zu tun. Aber du brauchst Hilfe, das musst du doch einsehen. Und gerade für so etwas sind solche Ärzte da.«
»Bitte, Patsy, sei vernünftig!« Die Stimme ihrer Mutter klang flehend. »Vielleicht kannst du ja mit dem Doktor über deine Probleme reden, wenn du es schon mit uns nicht willst.«
Patricia hatte sie wütend angeblitzt. Sie hasste es, wenn ihre Eltern sie Patsy nannten, und noch mehr machte es sie zornig, dass man sie nicht einfach in Ruhe ließ. Was hieß das, der Psychoonkel sei ihnen empfohlen worden? Von wem? Tratschten ihre Eltern über sie in der Gegend rum? Verdammt, was gingen andere Leute ihre Probleme an?
Ihre Mutter war nun fertig mit dem Möhrenbeet und sammelte die Abfälle ein. Mit düsterer Miene schaute Patricia zu, ohne sich im Geringsten dafür zu interessieren. Mrs Mackintosh öffnete die Mülltonne und kippte die Pflanzenreste hinein. Dann stutzte sie und blickte genauer in die Tonne. Mit spitzen Fingern zog sie einen Packen zusammengerolltes Papier heraus.
Patricia wusste, was es war. Sie hatte es gestern selbst hineingestopft. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck musterte sie die leeren Wände ihres Zimmers, auf der geblümten Tapete sah man deutlich die hellen Vierecke, wo vorher die Pferdeposter gehangen hatten. Endlich ist der Mist weg, dachte sie. Alles, was sie jetzt noch zu tun hatte, war, ihre Reitsachen zu entsorgen. Momentan lagen Stiefel und Hose zusammen mit Kappe und Gerte in eine Plastiktüte geknüllt in der hintersten Ecke ihres Kleiderschrankes, aber die Gefahr, dass ihre Mutter sie beim großen Aufräumen finden und ans Tageslicht holen würde, war immer gegeben. Das Einzige, von dem sich Patricia bisher noch nicht trennen konnte, war der Schnappschuss, der gerahmt auf ihrem Schreibtisch stand. Er zeigte Gavin und sie selbst bei der Siegerehrung der Juniorenmeisterschaft im letzten Sommer. Sie hatten damals die ersten beiden Plätze belegt und winkten, fröhlich auf ihren Pferden sitzend, mit den Kappen in die Kamera.
Patricia betrachtete das Bild häufig und jedes Mal war der Schmerz unglaublich stark. Doch sie brachte es nicht übers Herz, es wegzupacken. Es war das einzige neuere Foto, das sie von Gavin besaß, und sie empfand es irgendwie als ihre wohlverdiente Strafe für ihre Schuld an seinem Unfall, dass sie es ständig vor Augen hatte.
Es klopfte an der Tür.
»Patricia?« Die Stimme ihrer Mutter.
Oh Mann, jetzt macht sie gleich einen Aufstand wegen der Poster, dachte Patricia.
Doch merkwürdigerweise ging Mrs Mackintosh auf dieses Thema überhaupt nicht ein.
»Hör mal, Patricia, hast du gerade was Wichtiges zu tun?«
Was soll ich denn schon Wichtiges zu tun haben?, dachte Patricia.
»Warum?« Ihr Ton machte deutlich, dass sie sich gestört fühlte.
»Ich wollte fragen...« Ihre Mutter wirkte unsicher. »...Ich müsste zum Einkaufen fahren und da ist heute eine Menge zu schleppen. Wärst du so nett und kommst eben mit?«
Patricia stöhnte innerlich auf und lehnte ihren Kopf mit geschlossenen Augen an die Fensterlaibung. Auch das noch! Auf Einkaufen hatte sie absolut keine Lust! Konnte ihre Mutter nicht Ivan mitnehmen?
Doch ihre Mutter blickte sie so bittend an und in ihrem Innern mahnte sie eine leise Stimme, dass sie es trotz allem nicht übertreiben dürfe – sonst würden ihre Eltern sie doch noch zu dem Psychotherapeuten schicken. Widerwillig rutschte sie vom Fensterbrett.
»Von mir aus.« Ihr Gesichtsausdruck war mürrisch.
»Lieb von dir, danke«, sagte ihre Mutter, zögerte kurz, als wollte sie noch etwas hinzufügen, ließ es dann aber und verließ das Zimmer.
Lustlos folgte ihr Patricia.
Bei Tesco war es voll – ein Umstand, der Patricias Laune nicht gerade hob. Sie hasste die Atmosphäre in solchen Supermärkten, das Gedränge, die grelle künstliche Beleuchtung und das Klirren der Einkaufswagen gepaart mit
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