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Der Ruf der Pferde

Der Ruf der Pferde

Titel: Der Ruf der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Beyrichen
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beiden Freundinnen, Katie und Jennifer, haben mir erzählt, dass Patricia sie rausgeworfen hat, als sie kürzlich bei ihr waren.«
    Mrs Mackintosh nickte. »Ich konnte es kaum glauben. Die drei sind seit Jahren ein Herz und eine Seele. Und dann das! Ich habe Angst, dass es sich Patricia auf diese Weise mit allen verscherzt und am Ende völlig isoliert ist.«
    Helen schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass es so weit kommt. Jennifer und Katie haben es ihr, soweit ich es beurteilen kann, nicht weiter übel genommen. Sie wissen sehr genau, dass es Patricia im Grunde nicht so meint, und sie können ihren Kummer sehr gut verstehen.«
    Mrs Mackintosh nickte erleichtert. Dann verdüsterte sich ihr Gesicht wieder. »Ich befürchte aber, ich habe gerade einen großen Fehler gemacht.«
    »Weil Sie Patricia hierher gebracht haben? Das glaube ich nicht.« Helen steckte die Hände in die Taschen ihrer Reithosen. »Es war einen Versuch wert, möchte ich meinen. Und auch wenn sie jetzt so aggressiv reagiert hat – vielleicht bleibt doch ein bisschen etwas Gutes bei ihr hängen.«
    »Meinen Sie?«
    Helen nickte. »Ich bin zwar kein Fachmann auf diesem Gebiet, aber im Rahmen meiner Ausbildung musste ich mir zwangsläufig auch ein gewisses psychologisches Wissen aneignen. Ich glaube, dass Patricia einen echten Schock erlitten hat, als Gavin verunglückt ist. Ein Trauma, wie der Psychologe sagt. Und dieses Trauma erzeugt bei ihr eine heftige Ablehnung gegen alles, was mit dem Unfall zusammenhängt: gegen Reiten und Pferde. So etwas behandelt man am besten mit einer Konfrontationstherapie. Deswegen war es vielleicht sogar eine gute Idee, sie herzubringen.«
    »Ich weiß nicht, ich hatte eher den Eindruck, es war ein völliger Fehlschlag«, sagte Patricias Mutter traurig.
    »Besser wäre natürlich, sie käme in richtige psychotherapeutische Behandlung«, meinte Helen ehrlich.
    »Das haben wir versucht. Aber Patricia weigert sich.«
    Helen nickte nachdenklich. »Hm«, meinte sie. »Ich hätte da vielleicht eine Idee . . .«

5.
    In der schimmernden Abendsonne schien der Sgurr na Lapaich geradezu unwirklich zu glänzen. Obwohl jetzt, Anfang Juni, der Frühling auch hier in den Highlands endlich Einzug gehalten hatte, lag auf dem Gipfel immer noch stellenweise Schnee. Auf den Hängen hingegen erstrahlte das kurze, raue Gras in dem seltenen hellen Grün, das es in diesen Breiten stets nur kurze Zeit in dieser Farbintensität aufweist, bevor es wieder in sein übliches Braungrün unter tief hängenden Wolken zurückfällt. Der Wind schien ebenfalls eine Atempause eingelegt zu haben, er blies geradezu sanft und brachte den Geruch von frischer Erde und den jungen Blüten von Wicken, Storchschnabel und den für Schottland so typischen großknolligen Disteln mit sich.
    Ethan liebte diese Jahreszeit in den Bergen. Wie jedes Wochenende, das er zu Hause verbrachte, nutzte er die Gelegenheit, dem väterlichen Gut zu entfliehen. Aber momentan tat er das auch richtig gern – die Natur war einfach zu schön. Und außerdem hielten sich im Gegensatz zum Hochsommer die plagenden Mückenscharen noch in Grenzen.
    Schon seit einer Stunde saß Ethan auf dem warmen, flechtenüberzogenen Felsen in der Sonne und schaute zum Berg hinüber. Eine Weile lang beobachtete er einen Steinadler, der hoch oben seine Kreise zog. Vermutlich hatte er drüben an einem der felsigen Steilhänge seinen Horst. Vor Jahren war Ethan einmal zu einem Steinadlernest hinaufgestiegen – meist lagen zwei Eier darin, aber nur das stärkere, zuerst geschlüpfte Küken würde in der Regel überleben, wie er wusste. Die Altvögel fütterten immer nur dasjenige Junge, das sich, durch Größe und Stärke im Vorteil, nach vorne drängte, und irgendwann würde es dann sein kleineres, vor Hunger geschwächtes Geschwisterchen aus dem Nest stoßen. Die Natur kannte keine Gnade. Wer zu schwach war zum Kämpfen, ging unter.
    Ethan hatte damals lange darüber nachgedacht, ob er das wirklich grausam fand – denn diese Regelung barg auch durchaus ihren Sinn. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei Nahrungsknappheit wenigstens das stärkere Adlerjunge immer genug zu fressen bekam und so auf jeden Fall flügge wurde, war damit sehr viel größer. Würden beide Küken gleichermaßen gefüttert, käme es vermutlich häufiger vor, dass letztlich keines von beiden überlebte, denn in den kargen Bergen der Highlands war das Futter auch für Adler knapp. Hart, aber logisch, dachte Ethan.
    Sonny schnaubte und

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