Der Ruf Der Trommel
Aussortieren. Doch sie schien nachdenklich, und zwischen ihren dichten, roten Augenbrauen zeigte sich eine kleine Falte. Schließlich steckte sie das letzte Buch in den Karton, reckte sich und seufzte.
»Der Reverend hatte fast so viele Bücher wie meine Eltern«, sagte sie. »Mit Mamas medizinischen Büchern und Papas Geschichtskram
haben sie genug hinterlassen, um eine ganze Bücherei auszustatten. Es wird wahrscheinlich sechs Monate dauern, das alles zu sortieren, wenn ich nach Ha - wenn ich zurückfahre.« Sie biß sich leicht auf die Lippe und wandte sich ab, um sich eine Rolle Paketband zu nehmen und mit dem Fingernagel daran herumzupicken. »Ich habe der Immobilienmaklerin gesagt, daß sie das Haus im Sommer zum Verkauf anbieten kann.«
»Das ist es also, was dich beschäftigt hat?« sagte Roger langsam, und es dämmerte ihm, als er ihr Gesicht beobachtete. »Der Gedanke daran, das Haus, in dem du aufgewachsen bist, aufzulösen - dein Zuhause für immer zu verlieren?«
Sie hob leicht die Schulter und fixierte immer noch das widerspenstige Klebeband.
»Wenn du es aushalten kannst, kann ich es wohl auch. Außerdem«, fuhr sie fort, »ist es nicht so schlimm. Mama hat sich fast um alles gekümmert - sie hat einen Mieter gefunden und mit ihm einen Zeitvertrag über ein Jahr abgeschlossen, so daß ich in Ruhe entscheiden konnte, was ich tun wollte, ohne daß ich mir Sorgen machen mußte, weil das Haus einfach leerstand. Aber es ist albern, es zu behalten; es ist viel zu groß, um allein darin zu wohnen.«
»Du könntest heiraten.« Er platzte damit heraus, ohne nachzudenken.
»Möglich«, sagte sie. Sie warf ihm einen Seitenblick zu, und ihr Mundwinkel zuckte, vielleicht vor Belustigung. »Eines Tages. Aber was, wenn mein Mann nicht in Boston leben will?«
Ganz plötzlich kam ihm der Gedanke, daß der Verlust des Pfarrhauses sie vielleicht - nur vielleicht - deswegen so betroffen gemacht hatte, weil sie sich vorgestellt hatte, mit ihm darin zu leben.
»Willst du Kinder haben?« fragte er abrupt. Er hatte bis jetzt nicht daran gedacht, sie danach zu fragen, doch er hoffte sehr, daß es so war.
Einen Augenblick sah sie erschrocken aus, doch dann lachte sie.
»Einzelkinder wünschen sich doch normalerweise große Familien, nicht wahr?«
»Kann ich nicht sagen«, sagte er. »Ich jedenfalls schon.« Er beugte sich über die Kartons und küßte sie plötzlich.
»Ich auch«, sagte sie. Ihre Augen wurden zu Schlitzen, wenn sie lächelte. Sie wandte den Blick nicht ab, doch sie wurde ein bißchen rot und sah aus wie eine reife Aprikose.
Er wünschte sich Kinder, gut und schön, doch im Augenblick hätte er noch viel lieber das getan, wovon man Kinder bekam.
»Aber vielleicht sollten wir zuerst fertig aufräumen?«
»Was?« Die Bedeutung ihrer Worte drang nur vage zu ihm durch. »Oh. Ja. Stimmt, das sollten wir wohl.«
Er senkte den Kopf und küßte sie noch einmal, langsam diesmal. Sie hatte den wundervollsten Mund: breit, mit vollen Lippen, fast zu groß für ihr Gesicht - aber doch nicht ganz.
Er hatte sie um die Taille gefaßt und die andere Hand in ihrem seidigen Haar vergraben. Ihr Nacken fühlte sich glatt und warm an, er umschloß ihn mit der Hand, und sie erschauerte leicht und öffnete den Mund zum Zeichen der Hingabe, und da hätte er sie am liebsten rückwärts über seinen Arm gebeugt, sie zum Teppich vor dem Kamin getragen und…
Kräftiges Gerappel ließ seinen Kopf hochfahren und schreckte ihn aus der Umarmung.
»Wer ist das denn?« rief Brianna aus und fuhr sich mit der Hand ans Herz.
Das Arbeitszimmer war an einer Seite von deckenhohen Fenstern begrenzt - der Reverend war Maler gewesen -, und ein quadratisches, backenbärtiges Gesicht war jetzt gegen eins davon gepreßt, die Nase fast platt vor Neugier.
»Das«, sagte Roger durch die Zähne, »ist der Postbote, MacBeth. Was zum Teufel macht der Kerl da draußen?«
Als hätte er die Frage gehört, trat Mr. MacBeth einen Schritt zurück, zog einen Brief aus der Tasche und wedelte ihnen jovial damit zu.
»Ein Brief«, sagte er mit deutlichen Lippenbewegungen und sah Brianna an. Dann wanderte sein Blick zu Roger, und er zog die buschigen Brauen vielsagend zu einem lüsternen Blick hoch.
Als Roger die Eingangstür erreicht hatte, stand Mr. MacBeth mit dem Brief auf der Stufe.
»Wieso um Himmels willen haben Sie ihn nicht in den Briefschlitz gesteckt?« wollte Roger wissen. »Nun geben Sie ihn schon her.«
Mr. MacBeth hielt den Brief
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