Der Ruf Der Trommel
an. Die Erinnerungen hatten ihm die Kehle zugeschnürt.
»Er hat meinen Vater für mich wirklich werden lassen. Und er hat mir mehr denn je gefehlt, denn jetzt wußte ich ein bißchen besser, was mir entging - aber ich mußte es wissen.«
»Manche Leute würden sagen, daß einem das, was man nie gehabt hat, auch nicht fehlen kann - daß es besser ist, überhaupt nichts zu wissen.« Brianna hob ihre Tasse, und ihre blauen Augen blickten unverwandt über den Rand.
»Manche Leute sind dumm. Oder feige.«
Er goß sich einen Schluck Whisky in die Tasse und neigte die Flasche mit hochgezogener Augenbraue in ihre Richtung. Sie hielt ihm kommentarlos ihre Tasse hin, und er schüttete Whisky hinein. Sie trank davon und stellte die Tasse hin.
»Was ist mit deiner Mutter?« fragte sie.
»Ich habe ein paar richtige Erinnerungen an sie; ich war fast fünf, als sie gestorben ist. Und dann sind da die Kartons in der Garage -« Er nickte zum Fenster. »All ihre Sachen, ihre Briefe. Es ist so, wie Papa
gesagt hat, jeder braucht seine Geschichte. Meine ist immer da draußen gewesen; ich wußte, daß ich mehr erfahren konnte, wenn ich jemals den Wunsch hatte.«
Er musterte sie einen langen Augenblick.
»Fehlt sie dir sehr?« sagte er. »Claire?«
Sie sah ihn an, nickte kurz, trank dann und hielt ihm ihre leere Tasse zum Nachschenken hin.
»Ich habe - ich hatte - Angst nachzusehen«, sagte sie und starrte gebannt auf den fließenden Whisky.
»Es geht nicht nur um ihn - es geht auch um sie. Ich meine, ich kenne die Geschichten, die Geschichten über Jamie Fraser; sie hat mir viel von ihm erzählt. Viel mehr, als ich jemals in historischen Dokumenten finden werde«, fügte sie mit dem schwachen Versuch eines Lächelns hinzu. Sie holte tief Luft.
»Aber Mama - zuerst habe ich versucht, mir vorzumachen, daß sie nur fort ist, quasi verreist. Und dann, als ich das nicht mehr konnte, habe ich versucht zu glauben, daß sie tot ist.« Ihr lief die Nase von ihren Gefühlen, vom Whisky oder vom heißen Tee. Roger griff nach dem Küchenhandtuch, das am Herd hing, und schob es ihr über den Tisch zu.
»Aber das ist sie nicht.« Sie nahm das Handtuch und wischte sich erregt die Nase. »Das ist das Problem! Sie fehlt mir ständig, und ich weiß, daß ich sie nie wiedersehen werde, dabei ist sie nicht einmal tot ! Wie kann ich um sie trauern, wenn ich glaube - wenn ich hoffe, daß sie da, wo sie ist, glücklich ist, wenn ich sie selbst dorthin geschickt habe?«
Sie schluckte den restlichen Inhalt ihrer Tasse herunter, verschluckte sich leicht, bekam dann aber wieder Luft. Sie fixierte Roger aufgebracht aus dunkelblauen Augen, als wäre er an der Situation schuld.
»Deswegen will ich es wissen, klar? Ich will sie finden, beide. Will wissen, ob es ihr gutgeht. Aber ich denke die ganze Zeit, vielleicht will ich es ja doch nicht wissen, denn was, wenn ich etwas Schreckliches herausfinde? Was, wenn ich herausfinde, daß sie tot ist, oder er - na ja, das würde keine große Rolle spielen, denn er ist ja sowieso schon tot, oder er war es jedenfalls, oder - aber ich muß , ich weiß, daß ich es muß.«
Sie knallte die Tasse vor ihm auf den Tisch.
»Mehr.«
Er öffnete den Mund, um zu sagen, daß sie schon mehr als genug getrunken hatte, doch ein Blick in ihr Gesicht, und er änderte seine Meinung. Er machte den Mund wieder zu und schenkte ein.
Sie wartete nicht ab, bis er Tee hinzufügen konnte, sondern hob die Tasse an den Mund, trank einen großen Schluck und noch einen. Sie hustete und spuckte und stellte die Tasse mit tränenden Augen hin.
»Also bin ich auf der Suche. Oder ich bin es gewesen. Aber als ich Papas Bücher gesehen habe und seine Handschrift… da kam es mir plötzlich alles falsch vor. Meinst du, es ist falsch von mir?«
»Nein, Liebes«, sagte er sanft. »Es ist nicht falsch. Du hast recht, du mußt es herausfinden. Ich helfe dir.« Er stand auf, nahm sie unter den Armen und half ihr auf. »Aber jetzt solltest du vielleicht ein Nickerchen machen, hm?«
Er hatte sie schon oben und halbwegs durch den Flur, als sie sich plötzlich losriß und ins Bad sauste. Er lehnte sich draußen an die Wand und wartete geduldig, bis sie wieder herausgestolpert kam. Ihr Gesicht hatte dieselbe Farbe wie der Putz über der alten Vertäfelung.
»Schade um den Glenmorangie«, sagte er, indem er ihr den Arm um die Schultern legte und sie ins Schlafzimmer dirigierte. »Wenn ich gewußt hätte, daß ich es mit einer Säuferin zu tun habe,
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