Der Ruf Der Trommel
mochte sich um sich selbst drehen wie eine sich windende Schlange, man konnte sie nicht ändern. Er war sich allerdings nicht so sicher, ob Brianna diese Überzeugung teilte.
Wie trauert man um eine Zeitreisende? hatte sie ihn gefragt. Wenn er ihr die Notiz zeigte, konnte sie wirklich trauern; dann wüßte sie Bescheid. Dieses Wissen würde sie verletzen, doch die Wunde würde heilen, und dann konnte sie die Vergangenheit ruhen lassen.
Wenn da nicht die Steine von Craigh na Dun wären. Der furchtbare Steinkreis und die Möglichkeiten, die er verhieß.
Claire war am traditionellen Tag des Samhain, des uralten Feuerfestes durch die Steine von Craigh na Dun gegangen, am ersten Tag im November vor fast zwei Jahren.
Roger erschauerte, und es lag nicht an der Kälte. Seine Nackenhaare sträubten sich jedesmal, wenn er daran dachte. Es war ein klarer, milder Herbstmorgen gewesen, damals in der Dämmerung des Allerheiligenfestes; und nichts störte den grasbewachsenen Frieden des Hügels, auf dem der Steinkreis Wache stand. Nichts, bis Claire den großen, gespaltenen Stein berührt hatte und in die Vergangenheit verschwunden war.
Dann war es ihm erschienen, als löste sich die Erde unter seinen Füßen auf, und die Luft hatte mit einem Dröhnen an ihm gezerrt, das in seinem Kopf wie ein Kanonendonner widerhallte. Er hatte grelles Licht und dann nur noch Dunkelheit wahrgenommen, nur seine Erinnerungen an das letzte Mal hatten verhindert, daß er in völlige Panik geriet.
Er hatte Briannas Hand festgehalten. Ein Reflex schloß seinen Griff, als schon alle Sinne von ihm wichen. Es war, als würde man aus einer Höhe von aberhundert Metern in eisiges Wasser gestürzt;
furchtbares Schwindelgefühl und ein Schrecken, der so intensiv war, daß er nur noch den Schrecken selbst fühlte. Blind und taub, seiner Sinne und seines Verstandes beraubt, war er sich zweier letzter Gedanken bewußt gewesen, Überbleibsel seines Bewußtseins, das verlosch wie Kerzenlicht in einem Hurrikan. Ich sterbe , hatte er gedacht und dabei große Ruhe verspürt. Und dann: Nicht loslassen .
Die aufgehende Sonne war wie ein lichter Pfad durch den gespaltenen Stein gefallen; Claire war ihn gegangen. Als Roger sich schließlich regte und den Kopf hob, glühte die späte Nachmittagssonne golden und lavendelfarben hinter dem hohen Stein und ließ ihn gegen den Himmel schwarz erscheinen.
Er lag auf Brianna und beschützte sie mit seinem Körper. Sie war bewußtlos, atmete aber, und ihr Gesicht war entsetzlich blaß im Kontrast zu ihrem roten Haar. Schwach, wie er war, war es ihm völlig unmöglich gewesen, sie den steilen Hügel hinunter zum Auto zu tragen; sie war die Tochter ihres Vaters, fast einsachtzig groß, nur ein paar Zentimeter kleiner als Roger selbst.
Er hatte über ihr gekauert, ihren Kopf in seinem Schoß gehalten und zitternd ihr Gesicht gestreichelt bis kurz vor Sonnenuntergang. Dann hatte sie die Augen geöffnet, so dunkel und blau, wie der Abendhimmel, und geflüstert: »Sie ist fort?«
»Ist schon gut«, hatte Roger zurückgeflüstert. Er beugte sich über sie und küßte ihre kalte Stirn. »Ist schon gut; ich paß auf dich auf.«
Er hatte es ernst gemeint. Doch jetzt?
Es wurde schon dunkel, als er zu seinen Räumen zurückkehrte. Im Vorbeigehen hörte er Klappern aus dem Speisesaal, und er roch Speck und gebackene Bohnen, doch Abendessen war das letzte, wonach ihm jetzt der Sinn stand.
Er schlich sich zu seinen Räumen hinauf und ließ seine feuchten Sachen in einem Haufen auf den Boden fallen. Er trocknete sich ab und setzte sich dann nackt auf sein Bett, das Handtuch vergessen in der Hand, und starrte auf den Schreibtisch und das Holzkistchen mit Briannas Briefen.
Er würde alles tun, um sie vor Schmerzen zu bewahren. Er würde noch viel mehr tun, um sie vor der Bedrohung durch die Steine zu bewahren.
Claire war - so hoffte er - von 1968 nach 1766 zurückgereist. Und war dann 1776 gestorben. Jetzt war 1970. Wenn man jetzt zurückging, würde man - vielleicht - 1768 ankommen. Zeit genug. Das war das Schlimmste daran, Zeit genug.
Selbst wenn Brianna genau wie er glaubte - oder er sie davon überzeugen konnte -,daß man die Vergangenheit nicht ändern konnte, würde sie die nächsten sieben Jahre in dem Bewußtsein leben können, daß das Fenster der Gelegenheit sich schloß, daß ihre einzige Chance, jemals ihrem Vater zu begegnen, jemals ihre Mutter wiederzusehen, Tag für Tag schrumpfte? Es war eine Sache, sie sich
Weitere Kostenlose Bücher