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Der Ruf Der Trommel

Titel: Der Ruf Der Trommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Wange hinzu und eine grobe Zickzacklinie auf der rechten Seite meines Unterkiefers. »Das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Ich habe es nur einmal gesehen, aus der Entfernung.«
    »Ian, das ist nicht -«

    »Psst«, sagte er noch einmal und legte mir die Hand auf den Arm, um meinen Protest zu ersticken. »Geh zu ihm, Tante Claire. Er wird keine Angst vor dir haben; er ist ja schließlich an dich gewöhnt.«
    Ich rieb mir einen Tropfen von der Nasenspitze und kam mir durch und durch idiotisch vor. Doch ich hatte keine Zeit für Diskussionen. Ian versetzte mir einen leichten Stoß, und ich wandte mich zur Tür. Ich betrat den dunklen Maisspeicher, bückte mich und legte dem Mann die Hand auf. Seine Haut war heiß und trocken, seine Hand so schlaff wie abgewetztes Leder.
    »Ian, kannst du mit ihm reden? Seinen Namen rufen, ihm sagen, daß alles gut ist?«
    »Du darfst seinen Namen nicht aussprechen, Tante Claire; es lockt die Dämonen an.«
    Ian räusperte sich und sprach ein paar Worte in leisen, klickenden Kehllauten. Die Hand, die ich hielt, zuckte schwach. Meine Augen hatten sich jetzt der Dunkelheit angepaßt, ich konnte das Gesicht des Mannes sehen, in dem sich ein Ausdruck schwacher Überraschung zeigte, als er meine Schlammfarbe sah.
    »Sing, Tante Claire«, drängte mich Ian leise. » Tantum ergo vielleicht; es hat sich ein bißchen ähnlich angehört.«
    Es gab schließlich nichts, was ich sonst hätte tun können. Völlig hilflos fing ich an.
    » Tantum ergo, sacramentum …«
    Innerhalb weniger Sekunden wurde meine Stimme kräftiger, und ich hockte mich leise singend auf meine nackten Fersen und hielt seine Hand. Seine schweren Augenbrauen entspannten sich, und ein Blick, der Ruhe hätte sein können, trat in die eingesunkenen Augen.
    Ich hatte schon so manchem Sterben beigewohnt, durch Unfälle, Krieg, Krankheit oder natürliche Ursachen, und ich hatte gesehen, wie die Menschen dem Tod auf verschiedene Weisen entgegentraten, von stoischer Akzeptanz bis hin zu heftigem Protest. Doch ich hatte noch nie jemanden so sterben sehen.
    Er wartete einfach, die Augen auf die meinen gerichtet, bis ich zum Ende des Liedes gekommen war. Dann drehte er sein Gesicht zur Tür, und als die aufgehende Sonne auf ihn fiel, verließ er seinen Körper, ohne daß er mit einem Muskel gezuckt oder einen letzten Atemzug getan hätte.
    Ich saß völlig still und hielt seine schlaffe Hand, bis ich erkannte, daß auch ich meinen Atem anhielt.
    Die Luft um mich herum erschien mir merkwürdig still, als wäre die Zeit für einen Augenblick stehengeblieben. Doch natürlich war
sie das, dachte ich, und zwang mich zum Einatmen. Sie war für ihn stehengeblieben, für immer.
     
    »Was sollen wir mit ihm machen?«
    Es gab nichts mehr, was wir für unseren Gast tun konnten; im Augenblick stellte sich nur die Frage, wie wir am besten mit seinen sterblichen Überresten umgingen.
    Ich hatte mich unauffällig mit Lord John unterhalten, und er hatte Willie mitgenommen, um die letzten Erdbeeren auf dem Hang zu sammeln. Obwohl der Tod des Indianers nichts auch nur ansatzhaft Unheimliches an sich gehabt hatte, wünschte ich mir dennoch, Willie hätte nichts davon mitbekommen; es war kein Anblick für ein Kind, das erst vor ein paar Monaten seine Mutter hatte sterben sehen. Auch Lord John war mir aufgewühlt vorgekommen - vielleicht würden ein bißchen Sonne und frische Luft den beiden guttun.
    Jamie runzelte die Stirn und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. Er hatte sich noch nicht rasiert, und seine Stoppeln machten ein kratzendes Geräusch.
    »Wir müssen ihn doch sicher anständig beerdigen?«
    »Tja, ich schätze nicht, daß wir ihn im Maisspeicher liegenlassen können, aber würde es seine Leute nicht stören, wenn wir ihn hier begraben? Hast du irgendeine Ahnung, wie sie mit ihren Toten umgehen, Ian?«
    Ian war immer noch ein wenig blaß, aber überraschend ruhig. Er schüttelte den Kopf und trank von seiner Milch.
    »Ich weiß nicht viel darüber, Tante Claire. Aber ich habe dir ja gesagt, daß ich einmal dabei war, als ein Mann gestorben ist. Sie haben ihn in Hirschleder gehüllt und eine Prozession durch das Dorf veranstaltet und dabei gesungen, dann haben sie die Leiche ein Stück weit in den Wald getragen und ihn auf ein Podest gelegt, ein Stück über dem Boden, und ihn zum Trocknen dortgelassen.«
    Jamie schien alles andere als angetan von der Vorstellung, mumifizierte Körper auf den Bäumen in der Umgebung der Farm

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