Der Ruf Der Trommel
seinem Körper zu beweisen - stellte ihn mit Gewalt auf die Probe. Meistens hatte er die Herausforderung angenommen. Doch es half nichts.
Dennoch sprach keiner von uns bei Tageslicht von solchen Dingen. Ich konnte es nicht; ich hatte kein Recht dazu. Frank tat es nicht; er hatte seine Rache gehabt.
Manchmal vergingen Monate - sogar ein Jahr oder mehr - zwischen solchen Episoden, und wir lebten friedlich zusammen. Doch dann geschah es wieder; die heimlichen Telefonate, sein allzu penibel entschuldigtes Fernbleiben, die Überstunden. Niemals etwas so Offensichtliches wie das Parfüm einer anderen Frau oder Lippenstift an seinem Kragen - er war diskret. Doch stets spürte ich die andere Frau wie einen Geist, wer sie auch immer war; eine gesichtslose, anonyme Sie.
Ich wußte, daß es keine Rolle spielte, wer es war - es waren mehrere. Das einzige, was zählte, war, daß sie nicht ich war. Und ich lag wach und ballte meine Fäuste, die Spuren meiner Nägel eine kleine Kreuzigung.
Das Murmeln der Unterhaltung am Feuer war weitgehend verebbt; das Klicken bei den Zügen der Schachfiguren das einzige Geräusch.
»Fühlst du dich zufrieden?« fragte Lord John plötzlich.
Jamie hielt einen Moment lang inne.
»Ich habe alles, was ein Mann sich wünschen kann«, sagte er dann. »Einen Platz zum Leben und eine anständige Arbeit. Meine Frau an meiner Seite. Das Wissen, daß mein Sohn in Sicherheit ist und man gut für ihn sorgt.« Dann sah er zu Grey auf. »Und einen guten Freund.« Er ergriff Lord Johns Hand und ließ sie wieder los. »Mehr will ich nicht.«
Ich machte entschlossen die Augen zu und fing an, Schafe zu zählen.
Kurz vor der Dämmerung wurde ich von Ian geweckt, der neben meinem Bett hockte.
»Tante Claire«, sagte er leise, eine Hand auf meiner Schulter. »Komm lieber mit; dem Mann im Maisspeicher geht’s sehr schlecht.«
Noch ehe mein Verstand bewußt zu arbeiten begonnen hatte, war ich automatisch auf den Beinen, hatte mich in meinen Umhang gehüllt und folgte Ian auf nackten Füßen. Nicht, daß hier große Diagnosekünste vonnöten waren; ich konnte die tiefen, rasselnden Atemzüge aus drei Metern Entfernung hören.
Der Graf kauerte im Eingang, sein schmales Gesicht bleich und voller Angst im grauen Licht.
»Geh weg«, sagte ich scharf zu ihm. »Du darfst nicht in seine Nähe kommen; du auch nicht, Ian - geht zum Haus, ihr zwei, holt mir heißes Wasser aus dem Kessel, meine Kiste und saubere Tücher.«
Willie setzte sich sofort in Bewegung, denn er konnte es nicht abwarten, die furchterregenden Geräusche hinter sich zu lassen, die aus dem Schuppen drangen. Ian blieb jedoch stehen, und sein Gesicht war sorgenvoll.
»Ich glaube nicht, daß du ihm helfen kannst, Tante Claire«, sagte er. Sein Blick traf den meinen direkt, mit der tiefen Einsicht eines Erwachsenen.
»Sehr wahrscheinlich nicht«, sagte ich und antwortete ihm auf gleicher Ebene. »Aber ich kann nicht einfach nichts tun.«
Er holte tief Luft und nickte.
»Aye. Aber ich glaube…« Er zögerte und spach dann weiter, als ich nickte. »Ich glaube, du solltest ihn nicht mit Arzneien quälen. Er ist fest entschlossen zu sterben, Tante Claire; wir haben in der Nacht eine Eule gehört - er hat sie sicher auch gehört. Das ist für sie ein Vorzeichen des Todes.«
Ich blickte auf das dunkle Rechteck, das die Tür andeutete, und biß mir auf die Lippe. Er atmete flach und keuchend, und zwischen den einzelnen Zügen lagen erschreckend lange Pausen. Ich blickte wieder zu Ian.
»Was tun die Indianer, wenn jemand im Sterben liegt? Weißt du das?«
»Singen«, sagte er prompt. »Ihr Shaman bemalt sich das Gesicht und singt die Seele in Sicherheit, damit die Dämonen sie nicht holen.«
Ich zögerte, denn mein instinktives Bedürfnis, wenigstens etwas zu tun, stand auf Kriegfuß mit meiner Überzeugung, daß jegliches Handeln zwecklos war. Hatte ich irgendein Recht, diesen Mann um einen friedvollen Tod zu bringen? Schlimmer noch, in ihm die Angst zu wecken, daß meine Einmischung ihn seine Seele kosten würde?
Ian hatte die Ergebnisse meiner unentschlossenen Überlegungen nicht abgewartet. Er bückte sich und kratzte einen kleinen Erdklumpen zusammen, spuckte darauf und verrührte ihn zu Schlamm. Kommentarlos tauchte er den Zeigefinger in die Pfütze und zog von meiner Stirn aus eine Linie an meinem Nasenbein entlang.
»Ian!«
»Psst«, murmelte er und runzelte konzentriert die Stirn. »So, glaube ich.« Er fügte zwei Linien auf jeder
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