Der Ruf Der Walkueren
Gänsehaut bildete sich auf Grimhilds Arm. Thiota wollte dem Trank erdmegin beimischen! Plötzlich fürchtete sich die Niflunge. Waren die Mächte, die sie zu ihrer Unterstützung herbeirief, nicht zu groß, um kontrolliert zu werden?
Thiota fühlte den Strom schwerer Energie von der dunklen, nach Moos und Farn riechenden Erde durch ihre Finger fließen. Ihre Hände kribbelten. Vorsichtig ließ sie ein paar Krümel in den Trank fallen und hauchte:
»Erde, Erde,
Kristallgebärende,
Fruchtbare, Nährende,
Reifende, Sprießende,
Flur oder Grünende
– bei jedem Namen
rufe ich dich!«
Thiotas Gesicht war angespannt. Ihr durfte kein Fehler unterlaufen. Ein Wort verfügte über die Kraft, das Gesagte zu erschaffen, ein Versprecher konnte unvorstellbare Folgen haben. Sie hob die mit Runen versehenen Holzstäbchen auf und ergriff das Messer. Dies war der entscheidende Augenblick. Schrift fixierte den Zauber und machte ihn dadurch mächtiger. Schriftmagie war stärker als Wortmagie, weil sie den Zauber dauerhaft band. Immer noch singend schabte Thiota die Runen ab und ließ die Späne in den Trank fallen.
»Vergessen, verlieren,
die Frau, die du liebst,
der Treue du schworst.
Ihr Antlitz verblasst,
trinkst du die Runen.
Verändern, verwandeln
soll sich dein Sinn.
Nicht schlafen sollst du
vor Sehnsucht nach dieser,
der herrlichen Jungfrau.
Verlangen, verfallen,
gefesselt dein Herz.
Trinkst du die Runen,
wirst nimmer begehren
du Freiheit von ihr.«
Thiota fühlte sich schwindlig, wie immer, wenn sie starke Magie benutzte. Vor ihren Augen tanzten farbige Kreise, und sie hörte Geräusche, die nicht wirklich da waren: Rauschen, Klingeln, dumpfes Pochen. Ein scharfer Geruch erfüllte ihre Nase. Außerdem plagten sie Kopfschmerzen. Es wurde höchste Zeit, die Trance zu beenden. Kontrolliert ließ sie die Spannung entweichen. Einen Augenblick lang musste sie die Augen schließen, bis die Welt aufgehört hatte, sich zu drehen.
»Ist es fertig?«, fragte Grimhild unsicher.
Thiota wünschte sehnlichst, dass ihre Besucherin ging, damit sie die Finger der Macht, die sie berührt hatten, abwaschen konnte. Und schlafen! Sie musste dringend schlafen! Mit zittrigen Händen goss sie den Trank in eine Flasche, verschloss sie und reichte sie der Niflunge. »Sei bei ihm, wenn er den Sud trinkt, und er wird dich mit neuen Augen betrachten.«
Grimhild drückte die Flasche wie einen kostbaren Schatz an sich. »Sigfrid«, murmelte sie unhörbar, »jetzt bist du mein!«
2
Ihre eigene Unentschiedenheit war das Schlimmste, fand Grimhild. Sie saß allein in der Großen Halle und wusste nicht, was sie tun sollte. Je länger sie die Flasche der Seherin auf dem Tisch ansah, desto monströser schien ihr der Plan. Gestern war sie erst spät von Thiota zurückgekehrt und hatte keine Gelegenheit gefunden, Sigfrid den Trank zu verabreichen – nein, das stimmte nicht. Sie hatte gezögert. Sie hatte nicht den Mut aufgebracht. Es war erdmegin in dem Trank!
Ein Wiehern unterbrach Grimhilds Grübeleien. Sie stürzte ans Fenster. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie sah, wie Ivo die Pferde der Gäste aus dem Stall führte. Sigfrid bedachte ihn mit seinem typischen Lachen, und etwas zerriss in ihr. Sie konnte es nicht ertragen, dass er für immer aus ihrem Leben verschwand. Hastig riss sie den Verschluss von der Flasche und schüttete die farblose Essenz in einen Becher. Dann eilte sie zu einer Amphore und goss vom besten Wein dazu. Prüfend roch sie daran, konnte jedoch keinen anderen Geruch als den von Wein feststellen. Gut! In der Tür stieß sie mit Sigfrid zusammen und ließ dabei um ein Haar den Becher fallen.
»Verzeiht, frūa «, sagte der Sachse höflich, »ich dachte, Euer Bruder wäre hier. Ich möchte mich von ihm verabschieden.«
Grimhild schluckte. Ihre Kehle war trocken. »Ihr wollt uns wirklich schon verlassen?«, fragte sie und legte soviel Wärme in ihre Stimme, wie sie nur konnte. Vielleicht gab es eine andere Möglichkeit, ihn zurückzuhalten. Vielleicht genügte ihr natürlicher Zauber, um seinen Sinn zu ändern.
»Eure Gastfreundschaft war ohnegleichen, aber ich muss fort.«
Immer noch schreckte sie vor der Entscheidung, die ihre und seine Zukunft unwiderruflich festlegen würde, zurück, doch der Kampf in ihrem Inneren dauerte nur einen Herzschlag, dann trug ihr Verlangen den Sieg davon. »Wenn es sich denn gar nicht vermeiden lässt, so nehmt wenigstens diesen Abschiedstrunk von mir.« Ihre Hand
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