Der Ruf des Abendvogels Roman
sich. Ihr war nicht nach Reden zumute, obwohl ihre Mutter es einige Male versuchte. Nachmittags kam Victoria in ihr Zimmer, um nach ihr zu sehen. Die Sachen vom Abend zuvor lagen noch auf dem Boden, und das Bett war ungemacht. »Was ist los, Tara? Du müsstest doch eigentlich bester Stimmung sein.«
»Nichts, Tante Victoria. Ich bin nur müde, das habe ich Mutter auch schon gesagt.«
Victoria betrachtete sie forschend. »Vermisst du vielleicht Riordan?«
»Nein.«
Das überraschte Victoria nicht, doch sie hatte sicher sein wollen. Auch sie hatte Tara und Ethan am Abend zuvor beobachtet. »Erinnerst du dich noch daran, wie ich dir einmal gesagt habe, dass Ethan seine Gefühle für sich behält?«
Tara nickte.
»In all der Zeit, die ich ihn jetzt kenne, habe ich ihn noch nie über eine Frau sprechen oder von einer Frau erzählen hören. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass er eine Frau je wirklich angesehen hätte – bis gestern Abend.«
»Du meinst ... Maddy?«
»Maddy? Himmel, Tara, nein. Ich meine dich. Die Liebe, die aus seinem Blick sprach, schien so hell wie die Sonne.«
Tara seufzte. »Das kannst du nicht ernst meinen, TanteVictoria. Maddy hat mir gestern Abend erzählt, dass sie und Ethan Pläne für eine gemeinsame Zukunft machen.«
»Nur in ihren Träumen, Tara!«
»Aber sie würde doch sicher nicht lügen, wenn es um so etwas Wichtiges geht ...«
»Oh doch, das würde sie, wenn es ihren Zwecken dient. Diese ›Romanze‹ war von Anfang an einseitig, und natürlich ist sie eifersüchtig, weil Ethan gestern Abend nur Augen für eine Frau hatte: für dich. Es war fast, als hätte niemand anderer am Tisch gesessen, Maddy eingeschlossen.«
Tara lebte sichtlich auf.
Victoria lächelte. »Das Abendessen ist gleich fertig. Du kannst doch Sorrel, deine Mutter und mich nicht mit all diesen Kindern allein lassen – ich erwarte dich also gleich im Esszimmer.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ist dir klar, dass wir in weniger als zwei Wochen Weihnachten feiern? Ich muss Ethan unbedingt sagen, dass er Geschenke für die Kinder einkauft. Ich möchte nämlich, dass es ein Fest wird, an das sie ihr Leben lang gern zurückdenken.«
Von neuer Energie durchströmt, öffnete Tara die Tür ihres Kleiderschranks, um das grüne Kleid aufzuhängen. Sie hatte es am Abend zuvor achtlos auf den Boden fallen lassen, als sie sich auf ihr Bett geworfen und Tränen der Verzweiflung vergossen hatte.
Als sie das Kleid an die Stange hängte, fiel ihr Blick auf etwas Rotes, das ganz unten im Schrank lag. Sie hob es auf und erkannte den Stoff ihres wunderschönen roten Abendkleides. Als sie es in der Hand hielt, glitten ihr Stofffetzen durch die Finger: Jemand hatte es vollkommen zerrissen!
»Mama, Mama«, rief Jack, der ins Zimmer gelaufen kam. »Hast du vielleicht Harry gesehen?«
Benommen wandte Tara sich um und sah Jack an, ohne ihn wirklich zu sehen. Ihre Hände umklammerten noch immer die dünnen Fetzen ihres einst so schönen Kleides.
Jack sah erst das Kleid an und dann Tara, und auf seiner Miene spiegelte sich seine Verwirrung. Einen Moment lang fürchtete er,sie würde ihn für den Übeltäter halten, doch dann überkam ihn ein Gefühl großer Sicherheit, und seine Zweifel schwanden.
»Jack, hast du ... gestern Abend jemanden in mein Zimmer gehen sehen?«
»Nein, Mama. Ich habe Maddy an der Tür gesehen, aber sie hat gesagt, sie hätte sich im Raum geirrt.«
»Maddy!« Plötzlich passte alles so gut zusammen. Es waren auch nicht Saladin oder Jack gewesen, die die Reifen des Buggys zerfetzt hatten – sondern Maddy! Tara starrte auf die Reste ihres Kleides, erstaunt über so viel Hass. Er schien imstande zu sein, im Menschen ungeheuer zerstörerische Kräfte zu wecken. Konnte Eifersucht so schlimme Auswirkungen haben? Jetzt zweifelte Tara wirklich an dem, was Maddy ihr über Ethan erzählt hatte. Im Grunde wusste sie, dass er sie niemals so geküsst oder angesehen hätte, wenn er wirklich in Maddy verliebt gewesen wäre. Aber am Abend zuvor war sie zu sehr von ihrem Kummer geblendet gewesen, um folgerichtig zu denken.
Sie rief über Funk bei Ethans Hütte an, doch dort antwortete niemand. Als Nächstes versuchte sie es bei Lottie. Wenn Ethan dort war, würde sie ihn in Ruhe lassen, doch wenn nicht, wollte sie versuchen, ihn zu finden.
»Lottie? Ich bin es, Tara. Seid ihr heil und unversehrt zu Hause angekommen?«
»Ja. Rex war so froh über die Geschichte mit Moyna Conway, dass er wie eine alte Frau gefahren
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