Der Ruf des Abendvogels Roman
durch und preschten in hohem Tempo an ihr vorüber. Die Räder der Kutsche rollten durch eine Pfütze, und schmutziges Wasser spritzte an den Straßenrand.
»Sie ungeschickter Trottel!«, rief Lady Bowers dem Fahrer des Automobils zu. Sie war so außer sich, dass ihr das Paket entglitt.
»Diese verdammten Handschuhe!«, murmelte sie aufgebracht. »Nicht mal so ein verflixtes Ding kann ich halten. Und zur Hölle mit dem lächerlichen Schleier! Ich sehe ja kaum, wohin ich gehe!«
Sie hob den störenden Tüll, um das Paket zu begutachten, das zum Glück unbeschädigt schien, musste aber feststellen, dass der Saum ihres Kleides von übel riechendem Schlamm bedeckt war.
»Heiliger Moses«, stieß sie unterdrückt hervor, »ich hätte nicht gedacht, dass heute noch mehr schief gehen kann.«
An dem eleganten schwarzen Kleid, das sie günstig bei einem Wohltätigkeitsbasar erstanden hatte, waren zwei Knöpfe lose gewesen, sodass es über dem Busen nicht richtig schloss – was sie in letzter Minute behoben hatte. Ihre Schuhe waren nur geliehen und eine Nummer zu groß, weshalb sie Zeitungspapier in die Spitzen hatte stopfen müssen. Dann hatte ihr Pferd ein Hufeisen verloren, sie war in einen Wolkenbruch geraten ...
Plötzlich bemerkte sie, dass jemand einen stützenden Arm um ihre schmale Taille gelegt hatte. »Lassen Sie mich sofort los!«, stieß sie ärgerlich hervor, den Blick noch immer auf den schmutzbedeckten Saum ihres Kleides gerichtet. »Das hat mir gerade noch gefehlt – jetzt stinke ich wie ein wandelnder Misthaufen!« Dann wandte sie sich halb um, bereit, den unverschämten Kerl zu tadeln, der es wagte, sie anzufassen. Doch ein amüsierter Blick aus graublauen Augen ließ sie sofort verstummen. Hastig bedeckte sie ihr Gesicht, jedoch nicht, ohne vorher festzustellen, dass die schönen Augen zu einem sehr gut aussehenden Mann gehörten. Er war vermutlich nur wenige Jahre älter als sie selbst und trug einen maßgeschneiderten Mantel aus sehr teurem, feinen Stoff.
»Oh, entschuldigen Sie bitte!« Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, als ihr bewusst wurde, dass er jetzt sehr schlecht von ihr denken musste.
Er nahm seinen schwarzen Hut ab, unter dem dichte, blonde, gelockte Haare zum Vorschein kamen. Sein Schnurrbart war leicht rötlich und wohlgepflegt. Inmitten der vielen Arbeitslosen,die in schäbiger Kleidung vorübertrotteten, fiel seine Erscheinung umso mehr auf.
Der Mann maß sie mit einem fast unverschämten Blick von oben bis unten; ihre Aufmachung wirkte ein wenig altmodisch, sodass er eigentlich eine sehr viel ältere Frau zu sehen erwartet hatte. Ihre angenehme Stimme, ihr Auftreten und vor allem ihre sehr direkte Ausdrucksweise hatten ihn deshalb sehr überrascht. Zum Glück hatte er noch einen kurzen Blick auf ihr Gesicht werfen können, bevor sie diesen lächerlichen Schleier darüber gezogen hatte – sie war wirklich hübsch.
»Ich denke, Sie werden mir darin zustimmen, dass Pferdekutschen und Motorfahrzeuge nicht auf derselben Straße fahren sollten«, sagte er freundlich und zog ein schneeweißes Taschentuch mit Monogramm hervor. Ungläubig sah Lady Bowers zu, wie er begann, damit den Schmutz vom Saum ihres Kleides abzuwischen.
»Oh ja«, erwiderte sie leidenschaftlich. »Die Fahrer dieser Motorungeheuer scheren sich den Teufel um Fußgänger und noch weniger um die Pferde. Heute Morgen wäre ich beinahe im Straßengraben gelandet ...« Sie verstummte jäh, als ihr klar wurde, dass er eher für die Automobile gesprochen hatte und dass sie sich besser wie eine Dame benehmen sollte – zwar in finanzieller Notlage, aber nichtsdestotrotz eine wirkliche Lady!
»Ich wollte sagen, ich musste auf meine Kutsche zurückgreifen, denn wie alles andere ist auch Benzin im Moment schwierig zu bekommen ...«
Er blickte kurz auf, während er fortfuhr, am Saum ihres Kleides herumzuwischen, womit er allerdings den Schmutz nur weiter verschmierte. »Man kommt an alles heran, wenn man nur die richtigen Kontakte hat!«
Lady Bowers blickte auf seinen Kopf hinab und schnaubte leise. Wenn man nach seiner Kleidung urteilte, konnte er sich alles leisten! Jetzt richtete er sich auf, und sie zwang sich zu einem dankbaren Lächeln.
»Sind Sie wirklich nicht verletzt?«, forschte er, und trotz ihresleisen Ärgers fand sie den Klang seiner Stimme irgendwie faszinierend.
»Wirklich nicht«, erwidert sie und sah zu, wie er sich bückte, um ihr Paket aufzuheben. Plötzlich fühlte sie angesichts des
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