Der Ruf des Abendvogels Roman
sicher nicht so viel Zeit im Freien verbracht!
»Sehr erfreut, Lady Bowers.« Er beugte sich über ihre Hand. »Ich zweifle nicht daran, dass Ihr Plan wohl durchdacht ist, aber ich glaube trotzdem, es wäre von Vorteil, wenn ich Sie begleite. In diesem Unternehmen ist man ein wenig altmodisch und auf Etikette bedacht, und unglücklicherweise wird auf Trauernde dabei keine Rücksicht genommen. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir die Erlaubnis geben würden.«
Sie maß ihn mit einem langen Blick und gestand sich schließlich ein, dass sie jede Hilfe brauchen konnte.
»Gut«, erklärte sie, »solange Sie sich nicht in meine Geschäfte einmischen. Auch wenn es vielleicht dramatisch klingt, aber von dem Verkauf dieses Bildes hängt sehr viel für mich ab. Ich kann es mir nicht leisten, dass dabei etwas schief geht.« Sie sah Riordans neugierigen Blick, hätte sich jedoch lieber die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass sie kurz davor stand, obdachlos und allein zu sein – nur weil sie ihrem oft abwesenden Ehemann kein Kind hatte gebären können. Stattdessen besann sie sich wieder auf ihre Rolle als trauernde Witwe. »Seit ich meinen Mann ... verloren habe ...«, sie schluchzte theatralisch in ihr Taschentuch, »muss ich für mich selbst sorgen; ich hoffe, Sie verstehen?«
»Natürlich, Lady Bowers. Es ist wirklich sehr bedauerlich, dass Ihr Mann nicht ausreichend für Sie vorgesorgt hat!«
Morna riss die Augen auf und unterdrückte nur mühsam ein hysterisches Lachen. Es war fast unmöglich, für eine Frau zu sorgen, während man in einer Gefängniszelle festsaß – und genau dort befand sich ihr wahrer Ehemann nur allzu oft.
»Auch wenn ich Lord Bowers nicht persönlich kannte«, fügte Riordan hinzu, »so habe ich doch gehört, dass er ein sehr wohlhabender Mann gewesen sein soll.«
Seine Worte brachten die angebliche Lady Bowers für einen Augenblick aus dem Gleichgewicht. Sie hatte nicht erwartet, dass Riordan irgendetwas über ihren vorgeblichen Ehemann Lord Bowers wusste, und rief sich hastig in Erinnerung, was sie sich zurechtgelegt hatte. »Das ist lange her, Mr. Magee. Seine Leidenschaft für Kartenspiele, vor allem für ›Black Jack‹, war sehr viel größer als sein Geschick in dieser Hinsicht. Wir mussten fast unseren gesamten Besitz verkaufen. An diesem Bild hier hänge ich sehr, aber ich habe eine Verantwortung für meine Bediensteten und bringe es nicht übers Herz, sie einfach auf die Straße zu setzen ...«
Riordan war jetzt so gut wie überzeugt, dass ihre Geschichte erfunden war, doch ihre Schauspielerei bereitete ihm großes Vergnügen. Er beschloss, sie weiter zu verunsichern. »Ich verstehe – und vielleicht darf ich hinzufügen, ich bin zutiefst erleichtert, dass die Gerüchte um Ihren Mann nicht der Wahrheit entsprechen!«
Sie starrte ihn verwundert an. »Gerüchte? Was für Gerüchte?«
»Also, ich weiß nicht, ob ich sie Ihnen ...«
»Erzählen Sie mir davon, Mr. Magee! Ich habe ein Recht darauf zu wissen, was die Leute über meinen ... meinen lieben verblichenen Devlin reden.«
Riordan brachte es nur mit Mühe fertig, ein Lächeln zu unterdrücken. »Ich bin sicher, es ist kein Körnchen Wahrheit daran ...«
»Natürlich nicht. Aber trotzdem sollte ich wissen, was hinter meinem Rücken geredet wird!«
»Also gut, Lady Bowers! Es wurde erzählt, Lord Bowers hätte mehrere Geliebte gehabt.«
Obwohl es sie kaum hätte berühren dürfen, fühlte sie sich in ihrem Stolz getroffen, und echte Empörung stieg in ihr auf. »Das stimmt natürlich nicht!«, stieß sie wütend hervor.
»Bitte entschuldigen Sie meine Unverblümtheit! Jetzt, da wir uns kennen, würde ich niemals glauben, dass diese Gerüchte zutreffen könnten. Darf ich fragen, wie Lord Bowers ... so bedauerlich früh sein Ende gefunden hat? Auch darüber gingen zwar Geschichten um, aber wie ich soeben auf so plumpe Weise bewiesen habe, können solche Berichte sehr ungenau sein!«
»Er ... er ... war eine Zeit lang krank, und irgendwann hat sein Herz nicht mehr standgehalten ...« Sie hoffte, die vage Formulierung würde auch fast alle anderen Krankheiten abdecken, an denen Lord Bowers gelitten haben könnte. Riordan hob erstaunt die Brauen.
»Wirklich? Wie gut zu hören, dass er nicht an Syphilis gestorben ist! Gerüchte können so grausam sein!«
Lady Bowers war sprachlos vor Entsetzen. Wie hatte sie sich nur jemand derart Verdorbenen als Scheinehemann aussuchen können? Sie war eben im Begriff, Riordans Andeutungen
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