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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Anden. Den Regen, den Nebel. Ich sehnte mich nach Schwarzbrot, nach Käsespätzle, nach Maultaschen, nach dem Winter am Bodensee, nach klarer Luft, nach Breitengraden, wo die Winter dunkel und kalt waren, die Sommer warm und die Sommertage lang. Wo die Dämmerung der Sonne Zeit ließ, Luft und Wolken rosig zu färben. Dann kam die blaue Stunde, in der See und Berge, Häuser und Büsche, Vögel und Autos unmerklich ihre Farben verloren und Straßenlaternen und Leuchtreklamen plötzlich die Herrschaft übernahmen. Und noch lange sah man im Westen den hellen Schimmer der Sonne.
    Ich wollte heim, Vanessa wiedersehen, Simon, meine Klassenkameraden, den Schulhof. Ich hatte es so satt! Ich war nicht geschaffen für die Fremde. Es war zu anstrengend, nichts war einem vertraut, die Menschen lebten und dachten nach anderen Regeln. Alles musste man erklären, alles sich erklären lassen. Ich würde Leute wie Clara und Juanita nie verstehen. Und sie mich nicht. Und wozu auch? Wir lebten doch besser in unseren eigenen Kreisen und in den Ländern, deren Blumen und Tiere, deren Autokennzeichen und Wetter wir kannten. Es war ein Irrsinn alles! Ein riesiger Irrtum! Ein Fehler!
    Meine Eltern bereuten es doch auch längst.
    Mein Vater war kein einziges Mal mit einer der mobilen Krankenstationen, die er ins Leben gerufen hatte, mitgefahren. Die Reise in die Nebelberge hatte ihn geheilt von aller Sozialromantik. Er hatte begriffen, dass Widerstände und das Desinteresse zu groß waren für ihn, den Idealisten. Sie brauchten keinen Deutschen, der ihnen zeigte, wie man den Armen half. Im San Vicente spielte er den Dr. Alemán, von dem sich die Reichen voller Vertrauen operieren ließen. Und meine Mutter hasste das Labor. Ständig hatte sie Migräne, an die Höhenluft und das Klima hatte sie sich nie wirklich gewöhnt. Kokablätter lehnte sie ebenfalls ab. Sie würde doch nicht wie die alten Männer auf der Straße mit einer dicken Backe voller Blätter herumlaufen!
    Es raschelte wieder. Vermutlich eine Maus. Und noch einmal. Nein, das war keine Maus! Mäuse knisterten, aber hier schlurfte etwas, schleifte ...
    Der Schreck fuhr mir in die Glieder, ganz plötzlich. Da war noch jemand im Zimmer!
    Ich versuchte, die Dunkelheit mit meinen Blicken zu durchlöchern, ich hielt den Atem an, lag schreckstarr auf meinem Bett, das Blut rauschte mir in den Ohren. Was sollte ich tun? Mich schlafend stellen?
    Wie war er überhaupt reingekommen? Hatte ich meine Zimmertür nicht abgeschlossen? Ein verhängnisvoller Fehler in diesen Gegenden. Schon kam einer und ermordete mich und verschwand mit meiner geringfügigen Barschaft und mit Simons Uhr. Ja, diese Uhr, Simons Pfand meiner Wiederkehr, sie musste mich retten, sie musste mich doch nach Deutschland zurückbringen.
    Aber für solche Gedanken war jetzt eigentlich keine Zeit. Statt über Simons Uhr nachzudenken, sollte ich mir lieber überlegen, wie ich meiner Ermordung entkam. Falls ich das überhaupt wollte.
    Es war wie verhext. Meine Angst entwischte mir wieder. Zu berauschend war die Idee: meine Ermordung nicht verhindern, ihr nicht zu entkommen trachten, sich ihr hingeben. Der Tod war nicht das Schlimmste. Er war Frieden. Mein kurzes Leben fand ein Ende in einer Absteige irgendwo in den Nebelbergen, weil ein Dieb ein paar Pesos haben wollte und eine alte goldene Uhr. Wozu auch noch länger leben? Was konnte jetzt noch kommen? Studium, Arbeit, Haushalt, Kinder. Glück war das nicht. Das konnte ich an meinen Eltern sehen. Ja, meine armen Eltern! Sie wären traurig, ohne Zweifel. Das tat mir leid. Aber sie hatten wenig Mitgefühl und Verständnis gezeigt in den letzten Wochen und Monaten. Da konnte ich auf sie auch keine Rücksicht nehmen. Ich musste jetzt an mich denken. Und sterben ... ein Segen, eine Wohltat, eine Erlösung!
    Einen halben Atemzug später saß ich senkrecht im Bett und das Herz pumpte. Da war wirklich einer! Er hatte sich geräuspert, nicht absichtlich und laut, sondern so, wie jemand, ohne es zu merken, einen kleinen Belag auf den Stimmbändern mit etwas mehr Druck als normal wegatmet.
    »Hallo? Ist da jemand?«, wollte ich rufen, bekam aber keinen Laut heraus. Im nächsten Moment hörte ich einen fremden Atem, etwas stieß an mein Bett, das Holz knarrte, die Matratze senkte sich, Hände fassten nach mir und hielten mich fest.
    »Scht!«, zischte es.
    Und dann flochten sich die Finger der fremden Hand in meine.

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– 32 –
     
    D amián, wie kommst du hierher? Was machst du

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