Der Ruf des Kolibris
falten.
»Du hast mich ganz schön aus dem Gleichgewicht gebracht, weißt du das, Jasmin?«
Er wandte den Kopf und schaute mich an. So nah war mir sein Gesicht, dass ich trotz des spärlichen Kerzenlichts die zwei gekreuzten Wimpern in seinem Augenwinkel sah, die kleine Narbe in der Augenbraue.
»Ich habe gedacht, ich könnte es überwinden. Ich dachte, wenn ich so schnell wie möglich verschwinde, dann würde ich damit fertig.« Er lächelte schief. »Ich meine, ehe wir uns richtig ineinander verlieben. Ehe es ernst wird. Aber ...« Er seufzte tief. »... ich konnte nicht aufhören, an dich zu denken. Und je entschlossener ich war, dich zu vergessen, desto klarer ist mir geworden, dass es nicht nur um mich geht, sondern auch um dich. Ich hatte meine Entscheidung getroffen, ohne dich zu fragen, ohne dir etwas zu erklären. Vielleicht kannst du mir verzeihen, wenn ich dir sage, dass du und ich in meinem Inneren so sehr eins waren, eine Person mit gleichen Gefühlen und Gedanken, dass ich wie selbstverständlich davon ausgegangen bin, dass du mich verstehst und mit mir einig bist. Aber ...«
Seine Finger zuckten in meinen und verkrampften sich.
»Aber Clara hat mir geschrieben, dass es dir nicht gut geht.« Er blickte mich an. »Und sie meinte damit nicht einfach, dass es dir schlecht geht, sondern sie meinte damit die Trauer, die man empfindet, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat und sich immer wieder fragt, warum. Die Fassungslosigkeit, das Unbegreifen, die innere Lähmung. Sie hat mir geschrieben, dass du Nasa Yuwe lernst und doch nie meinen Namen nennst. Und dann hat sie mir geschrieben, dass du und Mrs Melroy dieses Wochenende in Uyu sein würdet. Und weißt du, wenn bei uns jemand unsere alten Grabstätten besucht, dann weil er Frieden wünscht und endgültig Abschied nehmen will. Wenn Mama Lula Juanita mitgekommen wäre, hätte sie mit dir eine bestimmte Zeremonie vollzogen. Dann wäre ich in deinem Herzen für immer tot gewesen. Und deshalb ...« Er zögerte und seine Finger zuckten gequält in meinen. »Deshalb habe ich mich heute ganz früh aufs Moped gesetzt und bin losgefahren.«
»Von Bogotá?«, fragte ich entsetzt. »Auf einem Moped?«
Er lächelte nur. »Ich musste es tun. Ich hatte plötzlich das Gefühl, es sei meine letzte Chance, dir mein Verhalten zu erklären und dabei auf dein Wohlwollen zu stoßen. Danach würdest du mich nicht mehr anhören.«
Da hatte er vielleicht sogar recht. Morgen früh hätte ich ihm womöglich die perversen Schmerzen, die ich litt und die er mir bereitet hatte, nicht mehr verziehen. Ich wäre innerlich gestorben gewesen.
»Wir müssen uns irgendwo treffen und reden«, sagte er sanft. »Darum wollte ich dich bitten. Falls du mir zuhören willst. Ich konnte nicht warten. Als ich euch vorhin aus dem Bus steigen sah ... dein Gesicht war so leer und traurig ...«
Mir schwindelte kurz. Da hatte er also irgendwo im Dunkeln gestanden, keine paar Meter von mir entfernt, und ich hatte es nicht bemerkt. Nicht auszudenken, wenn er sich nicht hätte entschließen können, mit mir Kontakt aufzunehmen!
»... und da wusste ich, dass ich dich keine Minute länger als nötig einem solchen Zustand überlassen durfte. Ich habe gesehen, in welchem Zimmer du Licht gemacht hast. Aber ich konnte nicht eher hier heraufkommen, die Rezeption war ständig besetzt. Und jetzt habe ich dich geweckt. Du bist müde.«
»Unsinn!« Die bleierne Müdigkeit von vor ein paar Stunden war wie weggeblasen. Ich fühlte mich wacher und lebendiger denn je. »Bleib, Damián. Lass uns jetzt reden. Ich könnte sowieso nicht mehr schlafen.«
Geradezu absurd, der Gedanke, jetzt zu schlafen. Simons Uhr zeigte kurz nach halb vier. Und wer wusste, was morgen sein würde? In dieser Nacht würde sich unser Schicksal entscheiden. Womöglich hatte ich nur diese eine Nacht, diese zweieinhalb Stunden bis Morgengrauen, um Damián und mir eine Zukunft zu geben.
Denn er war ja eigentlich gekommen, um ordentlich Abschied zu nehmen. Ich sollte verstehen, warum es so sein musste. Ich sollte am Ende Ja sagen und zusammen mit ihm unsere Liebe opfern, denn nach der Zerstörung des Familienfriedens kam das Opfer, das sechste Leben der Liebe. Nur durch das Opfer konnte man den Frieden wiederherstellen und den Krieg unter den Bären und Kolibris beenden. Damián wollte, dass ich einsah, dass wir verzichten mussten, weil unsere Kulturen, Einstellungen und Lebensentwürfe nicht kompatibel waren. So
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