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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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rede von Sex. Aber du musst nicht alles glauben, was deine Biologie dir weismachen will. Das geht vorbei. Glaub mir.«
    »Und wann?«
    »Na ja, so nach anderthalb bis zwei Jahren. Oder wenn du dich in einen anderen verliebst. Gibt es denn da keinen Jungen in Deutschland?«
    Ich dachte an Simon. Lange hatte ich schon nicht mehr an ihn gedacht. Ich schüttelte den Kopf.
    »Na, du bist noch jung!«, sagte Felicity. Sie blickte mich von der Seite an. »Habt ihr schon miteinander ...?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Wärst du denn darauf vorbereitet gewesen? Entschuldige, wenn ich das frage, ich will dich nicht in Verlegenheit bringen. Die heutige Jugend ist ja aufgeklärt, nicht wahr? Ich meine, ihr wisst im Prinzip, wie es geht. Aber ich sage dir, es ist anders. Vor allem passiert es schneller, als man denkt. Plötzlich ist man mittendrin und dann hat man nichts dabei.«
    Sie hatte durchaus recht.
    »Warst du schon beim Frauenarzt? Oder ist dir das Thema peinlich?«
    »Nein«, behauptete ich.
    Sie lachte. »Mir war es ungeheuer peinlich, als meine Mutter den Versuch unternahm, mich aufzuklären. Eigentlich wollte ich damals gar nicht wissen, wie meine Eltern mich produziert hatten. Außerdem wollte ich nicht, dass meine Mutter sich mit dem beschäftigte, was ich mir unter körperlicher Liebe vorstellte. Sie sollte sich da nicht einmischen. Das war meins. Eltern sind für solche Gespräche nicht die richtigen. Aber deine Mutter sollte mit dir wenigstens mal beim Frauenarzt gewesen sein.«
    »War sie aber nicht.«
    »Himmel, ich sag’s ja immer: ein Ärztehaushalt! Es ist immer das Gleiche. Ein Arzt vertraut keinem anderen Arzt. Jedenfalls schließe ich daraus, dass du die erste Erfahrung noch nicht gemacht hast.«
    »Das ist richtig.« Seltsamerweise war es mir nicht peinlich, es zuzugeben.
    »Besser so«, antwortete sie. »Zu früh ist auch nicht gut. Das sage ich nicht aus moralischen Gründen. Aber Sex ist halt etwas, was deiner Biologie noch mal mächtig Aufwind verschafft. Da glaubst du dreifach an die Liebe, auch wenn es dem Mann nur darum ging, dich ins Bett zu kriegen. Dann ist er fort, und du denkst immer noch, es sei Liebe gewesen. Wenn man älter ist, steckt man das leichter weg.«
    Später, nach einer kurzen Pinkelpause im letzten Gasthaus vor dem Ende der Zivilisation, drückte sie mir was in die Hand. »Für alle Fälle. Und steck es schnell weg.«
    Ich versenkte es in der Tat ziemlich schnell in meiner Jackentasche. Denn es war ein in Plastik verpacktes rotes Kondom.
    Wir kamen spät in der Nacht in San Andrés de Pisimbalá an. Es war ein dunkles Städtchen mit einer alten weißen Indianerkirche und einem Hotel namens El Refugio , in dem wir untergebracht wurden. Felicity Melroy besaß das Geld und das Alter, auf einem Einzelzimmer zu bestehen, sodass ich auch ein Einzelzimmer bekam. Der Rest der Reisenden waren Paare. Ein örtlicher Reiseleiter erklärte uns, dass wir morgen die Grabhöhlen von Tierradentro und die beiden Museen im Ort besuchen und abends an einer Tanzveranstaltung im Hotel teilnehmen würden. Am Montag würden wir dann wieder nach Bogotá zurückkehren.
    Nichts war mir je so sinnlos vorgekommen wie diese Reise. Sie war absurd! Die Erkenntnis überfiel mich erneut wie ein Blitz und lähmte mich schlagartig. Ich kam kaum die Treppe hoch. Ich brachte es gerade noch fertig, Felicity eine gute Nacht zu wünschen. Tränen liefen mir die Wangen hinunter, als ich die Tür meines Zimmers hinter mir zumachte. Wie sollte ich das nur alles schaffen? Aufstehen morgen, Felicity Rede und Antwort stehen, Wandmalereien würdigen.
    So lange hatte ich durchgehalten, jetzt war ich am Ende mit meiner Kraft. Nichts ging mehr. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, mich auszuziehen. Ich ließ mich einfach aufs Bett fallen. Selbst zum Schlafen, so kam es mir vor, war ich zu müde. Ich würde mit offenen Augen auf dem Bett liegen und an die Decke starren. Ins Wachkoma fallen. Und nichts, absolut nichts, würde mich bewegen können, wieder aufzustehen.
    Plötzlich ein Geräusch. Ein Rascheln. Oder?
    Es war stockfinster. Ich musste doch geschlafen haben. Dabei erinnerte ich mich nicht, das Licht ausgemacht zu haben. Vermutlich wieder mal ein Stromausfall. In diesem fürchterlichen Land fielen ständig Strom oder Wasser aus. Wäre doch nur morgen schon der Tag, an dem ich mit meinen Eltern das Flugzeug besteigen und das Land endlich wieder verlassen durfte. Ich hasste den Dauerfrühling in den Hochebenen der

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