Der Ruf des Kolibris
mir verboten oder erlaubten. Es war alles ganz und gar gleichgültig geworden, ganz still und starr.
»Das ist sehr beeindruckend!«, sagte Professor Graham Torres y Torres. »Ich wünschte, meine Studenten brächten so etwas zustande. Was wollen Sie denn später mal studieren? Ich würde Ihnen zu etwas Sprachlichem raten. Und womit kann ich Ihnen nun helfen?«
Ich starrte ihn an. Ich hatte keine Ahnung. Ich war tot. Ich war nicht mehr Jasmin Auweiler aus Konstanz, die sich in Bogotá in einen Indio verknallt hatte, ich war so etwas wie eine Pflanze, die grün und dumm im Sumpf vor sich hinvegetierte.
»Felicity sagte mir, Sie suchten jemanden, der die indianischen Namen der Region kennt. Sie hätten da einen Namen und wüssten nicht, wo der Ort liegt.«
Hatte ich das Felicity erzählt? Nun denn.
»Ich suche einen Ort, der auf Nasa Yuwe Schwarzes Wasser heißt«, sagte ich wie automatisch. »Es soll ein Tal sein. Irgendwo im Cauca in der Gegend von Yat Wala oder Yat Pacyte, falls Sie wissen, wo das ist.«
»Schauen wir mal«, sagte der Professor, stand auf, zog aus einer Papprolle ein großes Papier und entrollte auf seinem Tisch über den Büchern eine Landkarte. Aus reinem Höflichkeitsreflex stand ich auf, um ebenfalls einen Blick auf die Karte zu werfen. Der Professor hatte an vielen Stellen Orte, Dörfer und Gebäude eingezeichnet und mit den offiziellen und indianischen Namen versehen.
»Seit gut dreißig Jahren«, erzählte er, »sammle ich Namen. Früher bin ich da noch überall selbst herumgestapft, heute berichten mir die Studenten, was sie bei ihren Reisen notieren.«
Wir suchten eine Weile. Ich fand den Weg, den wir von Popayán aus genommen hatten, erst auf der Straße, dann mit den Pferden. »Da hat übrigens eine Steinlawine den Weg überrollt«, konnte ich Graham mitteilen. Auch das Anwesen von Clara, Maria, Tano, Ana und Alejandra war verzeichnet. Aber es stand nur ein spanischer Name dabei.
»Sie nennen es Yat Pacyte«, unterrichtete ich den Professor.
Er lächelte. Auch er wusste, was das wörtlich übersetzt hieß: »Das Haus den Hang hinauf.«
Mit einem spitzen Bleistift trug er den Namen auf seiner Karte ein. Der Bach, das Tal und die umliegenden Gipfel hatten bereits indianische Namen. Wir fanden auch den Smaragdsee, der in der Sprache der Nasa-Indianer e’ts hieß, Esmeralda, wovon sich der Name des Kolibris ableitete, und unsere Zeigefinger landeten schnell bei Yat Wala, dem Großen Haus am Gelben See. Der Fluss, der ihn speiste, hieß Yu’wala yaj , der bittere Fluss.
»Er enthält Schwefel und Salze«, erläuterte mir der Professor. »Und da haben wir es ja: Yu’ cjuch , das Schwarze Wasser. Sehen Sie es? Das liegt schätzungsweise dreißig Kilometer westlich vom Großen Haus. Warum interessiert Sie dieser Ort denn, wenn ich fragen darf?«
»Wie sieht es denn dort aus?«
»Es ist das Ende eines Tals, nicht sonderlich hoch, aber mitten im tiefsten Regenwald.«
In diesem Moment machte ich den entscheidenden Fehler, denn ich sagte, ohne nachzudenken: »Ein gutes Versteck.«
»Hm«, sagte der Professor. Sein Blick sprang mich kurz an, dann senkte er sich wieder auf die Karte. »Ein sehr entlegenes Gebiet im Cxab Wala Kiwe , dem Territorium des Großen Volkes. Es liegt auch nicht unter einer der gängigen Hubschrauberflugrouten. Wenn sich dort ein Camp befände, würde man es nicht bemerken, wenn nicht gerade irgendwo ein Feuer brennt und Rauch aufsteigt. Rauch sieht man kilometerweit. Es sei denn, der Nebel hängt in den Tälern. Dann natürlich nicht.«
Was redete er eigentlich? Mein Verstand taumelte. »Ja, ja«, wiederholte ich. »Ein gutes Versteck.«
»Dort in der Gegend wurde vor drei Jahren die deutsche Lehrerin entführt.«
»Susanne Schuster«, purzelte es aus mir heraus.
»Wissen Sie was über die Entführung?«, fragte der Professor weiter, die Augen immer noch auf der Karte und in einem Ton, als mache er nur Small Talk.
»Nichts«, antwortete ich. Dann wachte ich endlich auf. »Ich weiß wirklich nichts über die Entführung, was nicht alle wissen.« Es klang viel zu sehr nach Entschuldigung und Ausrede, ich hörte es selbst. »Seit meiner Ankunft in Bogotá reden alle über Susanne Schuster. Beim Diplomatenball, in der Schule, überall.«
»Es ist eine äußerst tragische Sache. Susanne war eine einfache Lehrerin, sie hatte Ideale, sie wollte die Kinder in den Bergen unterrichten. Sie sprach Nasa Yuwe . Und ausgerechnet so jemand wird entführt. Eine von
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