Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
Briefumschlag.
Unterdessen starrten im benachbarten Raum Bristow und Strike einander an – der eine wütend, der andere bemüht, seine Meinung zu ändern, ohne dabei die Selbstachtung zu verlieren.
»Alles, was ich will«, sagte Bristow heiser und mit hochrotem Kopf, »ist Gerechtigkeit .«
Als hätte er eine göttliche Stimmgabel angeschlagen, hallte dieses Wort durch das schäbige Büro und erzeugte einen unhörbaren und dennoch durchdringenden Ton in Strikes Brust. Bristow hatte jenen Funken entfacht, der auch dann noch in Strike glomm, wenn alles andere bereits in Rauch aufgegangen war. Natürlich plagten ihn verzweifelte Geldsorgen – jetzt aber hatte Bristow ihm einen weiteren, noch viel besseren Grund gegeben, seine Skrupel über Bord zu werfen.
»Gut. Ich verstehe. Wirklich, John. Ich verstehe. Setzen Sie sich wieder. Wenn Sie noch immer an meinen Diensten interessiert sind, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.«
Bristow funkelte ihn wütend an. Bis auf die gedämpften Rufe der Bauarbeiter unten auf der Straße war es in dem Büro vollkommen still.
»Möchten Sie Ihre – äh, Frau, ja? – nicht hereinbitten?«
»Nein«, sagte Bristow immer noch erregt, ohne die Hand von der Türklinke zu nehmen. »Alison hält das hier für Zeitverschwendung. Ich weiß nicht, wieso sie überhaupt mitgekommen ist. Vielleicht hat sie gehofft, dass Sie mich wieder wegschicken würden.«
»Bitte, setzen Sie sich doch. Gehen wir alles noch mal in Ruhe durch.«
Bristow zögerte, dann kehrte er zu seinem Stuhl zurück.
Strike konnte nicht länger an sich halten. Er nahm einen Schokoladenkeks, stopfte ihn sich in den Mund, holte ein unbenutztes Notizbuch aus der Schreibtischschublade, klappte es auf, griff nach einem Stift und hatte den Keks hinuntergeschluckt, noch ehe Bristow wieder Platz genommen hatte.
»Darf ich?«, fragte er und deutete auf den Umschlag, den Bristow nach wie vor umklammert hielt.
Der Anwalt überreichte ihn argwöhnisch, als wüsste er nicht so recht, ob er ihn Strike wirklich anvertrauen konnte. Da der jedoch den Inhalt nicht in Bristows Gegenwart prüfen wollte, klopfte er nur kurz darauf – wie zur Bestätigung, dass es sich dabei mit sofortiger Wirkung um einen wichtigen Bestandteil der Ermittlungen handelte –, legte ihn zur Seite und hob den Stift.
»John, wären Sie so freundlich, mir kurz zu beschreiben, was an dem Tag geschah, an dem Ihre Schwester starb? Das wäre sehr hilfreich.«
Strike war nicht nur von Natur aus methodisch und gründlich, sondern auch in Ermittlungsmethoden ausgebildet, die den höchsten Ansprüchen genügten. Daher wusste er: Dem Zeugen musste zunächst die Möglichkeit gegeben werden, die Vorkommnisse in eigenen Worten zu schildern. Ein ungehinderter Redefluss förderte oft Details und sogar Unstimmigkeiten zutage, die später wertvolle Hinweise darstellen konnten. Sobald die erste Fuhre an Eindrücken und Erinnerungen eingeholt war, mussten die Fakten gründlich und gewissenhaft präzisiert und sortiert werden: Wer, wann, wo, wie …
»Oh«, sagte Bristow, der nach seinem vehementen Gefühlsausbruch unsicher war, wo er anfangen sollte. »Ich weiß nicht … also …«
»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«, fragte Strike.
»Das war … Ja, das war am Morgen ihres Todestags. Um ehrlich zu sein: Wir haben uns gestritten, uns dann aber Gott sei Dank wieder vertragen.«
»Wann war das?«
»Ziemlich früh. Vor neun. Ich war gerade auf dem Weg ins Büro. Um Viertel vor neun etwa?«
»Worum ging es bei diesem Streit?«
»Oh, um ihren Freund, Evan Duffield. Sie hatten sich gerade wieder versöhnt. Ich – die ganze Familie – war heilfroh gewesen, als endlich Schluss war. Er ist ein schrecklicher Mensch, er nimmt Drogen, und er ist ein chronischer Selbstdarsteller; der schlimmste Einfluss auf Lula, den man sich nur vorstellen kann.
Möglicherweise bin ich zu grob mit ihr umgesprungen. Ich … Das ist mir jetzt klar geworden. Ich bin elf Jahre älter als Lula und war der Meinung, sie beschützen zu müssen, verstehen Sie? Da bin ich wohl manchmal zu rechthaberisch gewesen. Sie behauptete immer, dass ich es nicht verstehen würde …«
»Was verstehen würde?«
»Nun … alles. Sie hatte viele Probleme. Mit ihrer Adoption, damit, eine Schwarze in einer weißen Familie zu sein. Sie hielt mir immer vor, wie leicht ich es gehabt hätte … Keine Ahnung. Vielleicht hatte sie recht.« Er blinzelte heftig hinter seinen dicken Brillengläsern. »Dieser
Weitere Kostenlose Bücher