Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
fünfzehn Minuten lang blieb. Das Foyer des Mietshauses war folglich eine Viertelstunde vor Lulas Tod unbeaufsichtigt. Jeder hätte das Gebäude ungesehen betreten und wieder verlassen können. Wilson selbst verließ erst nach Lulas Sturz und aufgrund von Tansy Bestiguis Schreien die Toilette.
Der Läufer, der um 1.39 Uhr an der Kamera Ecke Alderbrook und Bellamy Road vorbeikam, hätte die Kentigern Gardens 18 in genau diesem Zeitfenster erreichen können.
»Und wie«, murmelte Strike, »konnte er durch die Vordertür hindurch erkennen, dass der Wachmann auf der Schüssel saß?«
Derrick Wilson ist gerne bereit, Auskunft zu geben.
Und ich wette, genau dafür hast du ihn bezahlt, dachte Strike, als sein Blick auf die Telefonnummer des Wachmanns unter dieser Anmerkung fiel.
Er legte den Stift beiseite, mit dem er sich eigentlich hatte Notizen machen wollen, und heftete Bristows Aufzeichnungen in die Akte. Anschließend schaltete er die Schreibtischlampe aus und humpelte zur Toilette, um zu pinkeln. Er putzte sich über dem gesprungenen Waschbecken die Zähne, schloss die Glastür ab, stellte den Wecker und machte sich bettfertig.
Im Neonlicht der Straßenlaterne vor dem Fenster löste er die Riemen der Prothese, nahm sie von dem schmerzenden Stumpf und entfernte das Gelkissen, das seine Qualen inzwischen nur noch unzureichend milderte. Er legte das falsche Bein neben das Netzteil, an dem er sein Handy auflud, schlüpfte in den Schlafsack, bettete den Kopf auf die Hände und starrte an die Decke. Wie befürchtet kam die bleierne Müdigkeit seines Körpers nicht gegen seinen rasenden Verstand an. Die alte Krankheit war zurück – marterte ihn, nagte an ihm.
Was sie jetzt wohl gerade machte?
Noch gestern Abend – was ihm jetzt wie ein Paralleluniversum vorkam – hatte er in einem wunderschönen Apartment in einem der begehrtesten Viertel Londons gewohnt; mit einer Frau, um die ihn jeder Mann beneidete, sobald sein Blick auf sie fiel.
»Warum ziehst du nicht einfach bei mir ein? Nun zier dich nicht so, Bluey, das ist doch nur vernünftig. Warum denn nicht?«
Er hatte von Anfang an gewusst, dass es ein Fehler war. Sie hatten es schon früher versucht, und jedes Mal war es noch unglückseliger verlaufen als zuvor.
»Wir sind verlobt, verdammt noch mal. Wieso sollten wir dann nicht zusammenziehen?«
Sie hatte ihm Dinge gesagt, die angeblich beweisen sollten, dass sie sich während der Zeit, in der sie ihn beinahe für immer verloren hatte, ebenso unwiderruflich verändert hatte wie er selbst nach dem Verlust eines halben Beins.
»Ich will keinen Ring. Mach dich nicht lächerlich, Bluey! Du brauchst das Geld doch für deine neue Firma.«
Er schloss die Augen. Nach diesem Morgen gab es kein Zurück mehr. Sie hatte ihm ein Mal zu oft zu einem viel zu ernsten Thema eine viel zu große Lüge aufgetischt. Trotzdem ging er alles in Gedanken noch einmal durch wie eine Gleichung, die er längst gelöst hatte, in der er jedoch einen schwerwiegenden Fehler vermutete. Akribisch erinnerte er sich an ihre sich ständig ändernden Zeitangaben, ihre Weigerung, einen Arzt oder Apotheker zu konsultieren, an ihre Wut, als er um Klärung der Angelegenheit gebeten hatte, schließlich die plötzliche Ankündigung, dass es vorbei sei – ohne auch nur den geringsten Beweis dafür zu liefern, dass das, was sie behauptet hatte, der Wirklichkeit entsprach. Er hatte Zweifel angemeldet – neben diversen anderen Verdachtsmomenten auch aufgrund ihrer Neigung zur Mythomanie, Provokation und Stichelei, mit der er schon schmerzhaft häufig konfrontiert worden war und die ihre Beziehung des Öfteren auf eine harte Probe gestellt hatte.
»Wage es ja nicht, gegen mich zu ermitteln! Wage es nicht, mich wie einen von deinen gottverdammten zugedröhnten Soldaten zu behandeln! Ich bin kein Scheißfall, den du lösen musst. Wie kannst du behaupten, dass du mich liebst, wenn du mir nicht einmal hier vertraust …«
Doch ihre Lügen waren ein Teil ihrer Natur, ihrer Existenz; mit ihr zu leben und sie zu lieben bedeutete, sich langsam in ihrem Netz zu verfangen, mit ihr um die Wahrheit zu ringen, mühsam darum zu kämpfen, den Bezug zur Realität nicht zu verlieren. Wie war es möglich, dass er, der von frühester Jugend an den brennenden Wunsch nach Klarheit und Wahrheit verspürt hatte, das Bedürfnis, Gewissheit zu haben und selbst den unbedeutendsten Dingen auf den Grund zu gehen, so heftig und so lange in eine Frau verliebt gewesen war, für
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