Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
die lügen so natürlich war wie atmen?
»Es ist vorbei«, ermahnte er sich. »Es hat so kommen müssen.«
Was er natürlich weder Anstis noch irgendjemandem sonst eingestehen wollte. Noch nicht. Er hatte in der ganzen Stadt Freunde, die ihn mit offenen Armen aufgenommen, die hilfsbereit und tröstend ihre Gästezimmer und Kühlschränke für ihn geöffnet hätten. Aber nachdem die Kinder ordentlich in ihre Pyjamas und dann ins Bett gesteckt worden wären, hätte er den Preis für die bequemen Nachtlager und hausgemachten Mahlzeiten bezahlen müssen, und der hätte darin bestanden, an einem fremden Küchentisch die letzte hässliche Schlacht mit Charlotte noch einmal zu durchleben; das betroffene Mitleid der Partnerinnen und Ehefrauen seiner Freunde über sich ergehen zu lassen. Da waren ihm die trostlose Einsamkeit, die Instantnudeln und der Schlafsack lieber.
Er spürte den Fuß, der ihm vor zweieinhalb Jahren vom Körper gerissen worden war, noch immer. Er war hier, in seinem Schlafsack. Wenn er wollte, konnte er mit den nicht mehr vorhandenen Zehen wackeln.
Trotz aller Erschöpfung dauerte es lange, bis er einschlief und eine hinreißende, keifende und rastlose Charlotte durch seine Träume geisterte.
TEIL ZWEI
Non ignara mali miseris succurrere disco.
Unglück lehrte mich, den Unglücklichen zu helfen.
VERGIL, AENEIS, BUCH 1
1
»›Trotz der Unmenge an Druckerschwärze, trotz endloser Sondersendungen, die Lula Landrys Tod gewidmet waren, wurde eine Frage nur selten gestellt: Warum trauern wir überhaupt um sie?
Natürlich war sie wunderschön, und schöne Frauen lassen die Auflagen in die Höhe schnellen, seit Dana Gibson für den New Yorker seine Sirenen mit Schlafzimmerblick zeichnete.
Außerdem war sie schwarz, vielmehr hatte sie einen appetitlichen Café-au-Lait -Teint, was – wie immer wieder betont wurde – als Zeichen des Fortschritts in einer Branche zu deuten sei, die sich ausschließlich mit Äußerlichkeiten beschäftigt. (Eine Behauptung, an der ich zweifeln möchte; ist es nicht möglich, dass Café au Lait einfach nur die Trendfarbe der Saison war? Hat die Modewelt seit Landry einen Zustrom schwarzer Frauen erlebt? Hat ihr Erfolg unseren Begriff von weiblicher Schönheit revolutioniert? Verkaufen sich schwarze Barbiepuppen heutzutage besser als weiße?)
Die Familie und die Freunde des Menschen Lula Landry haben in ihrer Verzweiflung mein tiefstes Mitgefühl. Wir jedoch, das lesende und fernsehende Publikum, können unsere maßlose Neugier nicht mit persönlich empfundener Trauer entschuldigen. Täglich sterben junge Frauen unter tragischen (sprich unnatürlichen) Umständen: bei Autounfällen, an einer Überdosis und gelegentlich auch, weil sie sich in dem Versuch, den von Landry und ihresgleichen propagierten Körperidealen zu genügen, zu Tode hungern. Verschwenden wir auf diese Frauen mehr als einen flüchtigen Gedanken? Haben wir ihre Allerweltsgesichter nicht schon nach wenigen Minuten vergessen?‹«
Robin hielt inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken und sich zu räuspern.
»So weit, so scheinheilig«, murmelte Strike.
Er saß am Ende von Robins Schreibtisch, sortierte Fotos in einen Ordner, die er anschließend nummerierte, und trug eine kurze Beschreibung dessen, was darauf zu sehen war, in ein Verzeichnis am Ende der Akte ein. Robin las den Artikel auf dem Bildschirm weiter laut vor.
»›Diese ungleiche Verteilung unseres Interesses, ja unserer Trauer gilt es zu untersuchen. Bis zu jenem tödlichen Sturz wäre die Vermutung, dass zehntausende Frauen liebend gern mit ihr getauscht hätten, wohl durchaus gerechtfertigt gewesen. In Tränen aufgelöste junge Mädchen legten Blumen unter den Balkon von Landrys Viereinhalb-Millionen-Penthouse, nachdem man ihren zerschmetterten Körper abtransportiert hatte. Ob sich auch nur ein einziges angehendes Model durch Lula Landrys Aufstieg und brutalen Fall von seinem Berufswunsch abschrecken lassen wird?‹«
»Komm zum Punkt«, sagte Strike. »Ich meinte die Autorin, nicht Sie«, fügte er hastig hinzu. »Der Artikel ist doch von einer Frau geschrieben worden, oder?«
»Ja, von einer gewissen Melanie Telford«, sagte Robin und scrollte zu dem Foto einer Blondine mittleren Alters mit Hamsterbacken, das am Anfang der Seite eingefügt war. »Soll ich aufhören?«
»Nein, nein, lesen Sie weiter.«
Wieder räusperte sich Robin. Dann fuhr sie fort: »›Die Antwort ist sicherlich Nein.‹ Es geht wohl immer noch um die angehenden
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