Der Ruf des Satyrs
unter seinen Fingerspitzen zuckte vor Magie.
Er ballte die Hand um die Rolle und zerknitterte sie, wollte sie zerstören. Diese Eindringlinge waren uneingeladen hierhergekommen und hatten ohne sein Wissen mit ihm gevögelt. Hatten sie vor, ihn auch durch das Portal hindurch mitzunehmen? Urplötzlich fühlte er sich außer Kontrolle, gewaltbereit. »Nehmt das, und geht dahin zurück, wo ihr hergekommen seid! Sagt dem Rat, er soll z…«
»Dane.« Die vertraute tiefe Stimme wirkte beruhigend auf ihn, brachte ihn auf den Boden zurück. Es war Bastian, sein ältester Bruder. Er war von irgendwo aus dem Hauptraum des Tempels gekommen und stand nun in einem der vielen Torbögen. Er trug einen locker gegürteten exotischen Morgenrock in persischem Stil, den er zweifellos auf einer seiner ausgedehnten Reisen zu verschiedenen archäologischen Stätten in der ganzen Welt erworben hatte. Hinter ihm im Inneren des Tempels erspähte Dane zahlreiche Kissen und Felle, die dort willkürlich verteilt lagen. Mehrere Kelche waren, leer und vergessen, hier und dort auf dem Boden und glänzten nur matt in der Dämmerung. Dane witterte den Duft der Frau, die sein Bruder ebenfalls dort vergessen zu haben schien.
Bastian war ein paar Zentimeter größer und fünf Jahre älter als Dane, und ihn kennzeichneten dieselben silbergrauen Augen und derselbe muskulöse Körperbau, doch er trug sein dunkles Haar kurzgeschnitten statt wild und strubbelig. Und anders als Danes rauhes und schroffes Naturell, verriet seine Miene kultivierte Intelligenz.
»Solltest du nicht unten auf dem Forum sein und Staub von irgendwelchen neu entdeckten Keramikscherben fegen?«, blaffte Dane ihn an.
»Die Ausgrabungen können warten«, antwortete Bastian und beäugte die Pergamentrolle, die Dane in der Hand hielt.
»Verdammt!« Dane riss die Schriftrolle auf und entrollte sie. Dann runzelte er die Stirn und hielt das Pergament so, dass die anderen sehen konnten, dass sich darauf nur ein paar Wörter und Zahlen befanden. »Dafür seid Ihr den ganzen langen Weg gereist? Um eine Adresse zu überbringen?«
»Die ganze Nachricht, die uns anvertraut wurde, darf nur mitgeteilt werden, wenn alle Betroffenen zugegen sind«, erhielt er zur Antwort.
Bastian wandte den Kopf über die Schulter und rief: »Sevin, komm mal hier raus!«
Innerhalb von Sekunden erschien ihr mittlerer Bruder von der anderen Seite des Säulenvorbaus, und schloss zerknitterte Hosen, die er offensichtlich eben erst angezogen hatte. »Was ist denn so wichtig?«, brummte er. »Es ist verdammter Tagesanbruch, und ich war gerade mittendrin.«
»Zwei Nebelnymphen?«, riet Bastian.
Sevin zuckte mit den Schultern, verzog jedoch einen Mundwinkel zu einem vielsagenden Grinsen. Das war der Sevin, den Dane noch aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte, der voller Energie hereinfegte, mit diesen deutlich sichtbaren Grübchen. Er sah aus wie ein Engel und war dazu noch seit jungen Jahren mit höllischem Glück gesegnet. Bei jeder Art von Glücksspiel verloren die Männer ihr Geld an ihn, während deren Ehefrauen ihm ihre besten Biscotti und Cannoli boten und ihm liebevolle Küsse auf die Wangen drückten. Und ihre Töchter boten ihm noch weit mehr als nur Küsse dar.
Dane war dreizehn Jahre alt gewesen, als er seine Brüder verlassen hatte und in die Anderwelt gegangen war. Sevin war damals fünfzehn und Bastian siebzehn Jahre alt gewesen. Doch trotz ihrer zwölf Jahre langen Trennung waren sie in den zwei Wochen, seit er wieder hier war, alle drei schnell in die alten Rollen ihrer Kindheit zurückgefallen.
Sevin warf einen Blick auf die Botinnen, und sein Gesicht nahm einen neckenden Ausdruck an. »Nereiden, Dane? Ich wusste gar nicht, dass du dazu das Zeug hast.«
Dane entgegnete ihm mit einem leidgeprüften Blick und einer derben Geste seiner Hand, was Sevins Grinsen allerdings nur noch breiter werden ließ. Als Dane die Schriftrolle auf den Altar warf, deutete Sevin mit einem Kopfnicken dorthin, seine Miene fragend.
»Es ist eine Adresse, wie üblich«, erklärte Bastian und zuckte mit einer Schulter. Sevin verdrehte genervt die Augen. Dane hob die Augenbrauen, da er die Reaktion seiner Brüder unerklärlich fand. Doch noch bevor er sie danach fragen konnte, nahmen die Botinnen aller Aufmerksamkeit in Anspruch.
»Wir bringen eine Nachricht vom Rat der Anderwelt«, verkündeten sie unisono. Sie legten die Fingerspitzen unter dem Kinn zusammen und beugten beide den Kopf zu dem traditionellen Gruß, der
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