Der Ruf des Satyrs
Nacht etwas Sonderbares in ihm wahrgenommen hatte. Natürlich hatte er das, und Sevin ebenso. Verdammt! Dane hatte gehofft, es noch etwas länger vor ihnen verbergen zu können. Doch die Unbilden des Vollmondes hatten ihn verraten.
»Ich war nicht ganz ich selbst letzte Nacht«, gestand er.
»Was bedeutet
nicht ganz?
«, fragte Bastian behutsam.
Dane fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Götter, ich hasse das!« Der Rest der Welt konnte von ihm halten, was er wollte, doch er und seine Brüder waren einander eng verbunden gewesen, früher. Er könnte es nicht ertragen, sollte Bastian ihn für irrsinnig halten, wenn er die Wahrheit erfuhr. Doch er würde ihnen die Tatsachen darlegen, ohne Ausflüchte, und seine Brüder konnten ihn so nehmen, wie er war, oder ihn ablehnen. Ihre Entscheidung. Er war sein halbes Leben lang allein gewesen. Er würde überleben.
»Ich meine, ich schlafe nicht mit den Frauen«, sagte Dane geradeheraus. »Ein anderer tut es an meiner Stelle. Ein eigenständiger Teil meiner Persönlichkeit bemächtigt sich meiner – übernimmt meinen Geist und meinen Körper – bei jeder fleischlichen Begegnung. Er verdrängt mich jeden Vollmond mit Anbruch der Nacht, und wenn ich mit Tagesanbruch wieder erwache, habe ich keinerlei Erinnerung an das Rufritual.«
»Er?« Bastians Gesicht ließ keinen seiner Gedanken erraten.
Dane fuhr fort, entschlossen, die reine unverblümte Wahrheit auszusprechen. »Dante. Seinetwegen habe ich nur zu Vollmond Sex, wenn unsere Körper dem Drang nachgeben müssen. Ansonsten bin ich enthaltsam.«
»Götter, Dane! Nur eine Nacht im Monat? Sich derart zu verleugnen, würde so einige Männer unserer Art töten«, meinte Bastian, und in seiner Stimme schwang neuer Respekt mit.
Dane zuckte mit den Schultern. Im Lauf der Jahre hatte es Zeiten gegeben, wo er sich gewünscht hatte, tot zu sein. Doch der Gedanke an Luc hatte ihn aufrecht gehalten.
»Konnten eure Heiler in der Anderwelt das irgendwie klären?«, wollte Bastian wissen. »Der Rat hat uns geschworen, dass man sich um dich kümmern würde. Sonst hätten wir dich gar nicht gehen lassen.«
»Ich kam in die Irrenanstalt.«
»Verdammt!« Bastians Fluch beinhaltete eine Mischung aus Frustration und Wut. Danes unkontrolliertes Verhalten – Krämpfe, Schlafwandeln, unaufhörliche Alpträume – nach seiner Entführung hatten seine Brüder so sehr in Sorge versetzt, dass sie zugestimmt hatten, ihn mit nur dreizehn Jahren in die Anderwelt zur weiteren Behandlung zu schicken.
»Das konntet ihr nicht wissen«, sagte Dane. »Und die Heiler dort hatten durchaus Erfahrung mit meiner Störung.«
»Störung?«
»Dissoziative Störung haben sie es genannt, verursacht durch ein seelisches Trauma. Irgendetwas ist mit mir passiert, das dazu geführt hat, dass meine Persönlichkeit sich aufgespalten hat. Es ist, als bestünde ich aus zwei verschiedenen Männern: einem, der sein Leben führt, und einem anderen, der Sex hat.«
»Dieses Trauma – war das etwas, das in dem Jahr geschah, in dem du verschwunden bist?«, vermutete Bastian.
»Ja, aber die Heiler sind über ihre erste Diagnose nie hinausgekommen. Jede weitere Behandlung wurde verhindert, als die Spezialeinheiten mich rekrutierten. Danach war es leicht, ohne Frauen auszukommen. Wir werden darauf trainiert, unserer sinnlichen Natur nicht nachzugeben.«
»Außer bei Vollmond.«
Dane zeigte ihm ein betrübtes Lächeln. »Nun, das Ritual lässt sich für keinen vermeiden. Jedes Volk in unserer Welt muss den Ruf zu einem gewissen Grad befolgen, und die Befehlshaber wollten nicht ihre gesamte Armee bei Tagesanbruch tot sehen. Sie brachten uns reichlich Frauen, und wie ich gehört habe, hat Dante so einige nette Orgien genossen.«
Das zunehmende Entsetzen in Bastians Blick verriet ihm, dass sein Bruder langsam zu begreifen begann, wie all das Danes Leben geformt hatte.
Dane versteifte sich. Er wollte kein Mitleid, gleich von wem. Und da er sich im Augenblick mehr als unbehaglich fühlte, war er selten so dankbar für etwas gewesen, wie er es nun für das Erscheinen der Frau war, die sich gerade in diesem Moment aus dem Inneren des Tempels zu ihnen gesellte. Sie war in einen viel zu großen Morgenrock eingewickelt, der dem von Bastian sehr ähnlich sah, und trug einen Stapel ordentlich gefalteter Kleidungsstücke, von denen Dane annahm, dass sie seinem Bruder gehörten. Nachdem sie sie auf dem Altar abgelegt hatte, schlang sie ihre Arme um Bastians
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