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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanna Seven Deers
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um Hilfe. Runa wusste, dass die Decke für den alten Agin bestimmt war, der letzte Nacht gestorben war. Agin war einer der Ältesten des Dorfes gewesen, alle hatten ihn sehr geachtet. Die Bestattungszeremonie würde am Nachmittag stattfinden. Die Männer hatten seine Grabstätte schon vorbereitet. Wie üblich hatten sie dafür zwei große Felsbrocken auf den vorbestimmten Platz außerhalb des Dorfes gewälzt, sie aufgestellt und mit einer Steinplatte bedeckt.
    »Warum legst du dich nicht eine Weile hin?«, schlug Erdis vor und warf Runa einen besorgten Blick zu.
    Die sanfte Stimme ließ Runa zusammenschrecken.
    »Ja«, antwortete sie.
    Als sie sich dem Schlaflager zu ihren Füßen zuwandte, fragte Erdis verwundert: »Warum legst du dich nicht in deiner eigenen Hütte hin?«
    Runa lächelte verlegen und machte sich auf den Weg.
    Während sie hinausging, hörte sie noch, was Erdis zu den anderen Frauen sagte: »Ein besonderer Geist weilt heute bei Runa. Sie braucht Zeit, um sich ihm zu öffnen und ihn anzunehmen.«
    Dann stand Runa auch schon im hellen Sonnenlicht. Eine ungewohnte Erschöpfung überkam sie, als sei sie auf einer langen Wanderung gewesen. Sie erspähte ihre eigene Hütte, die ganz in der Nähe stand, und wankte hinein. Die Einrichtung glich der in der Hütte von Erdis. Auch hier hingen viele getrocknete Kräuterbündel. Runa lächelte. Natürlich war das so, schließlich lernte sie von Erdis, der Kräuterfrau des Dorfes. Die Kräuterfrauen des Stammes heirateten nicht, sondern nahmen, wenn sie älter wurden, ein Mädchen des Dorfes wie eine Tochter zu sich, um sie in der Kunst der Kräuterheilung auszubilden. Manchmal war der Altersunterschied zwischen der Kräuterfrau und dem Mädchen nicht so groß und die beiden waren nicht wie Mutter und Tochter, sondern eher wie Schwestern miteinander verbunden. So war es auch bei Erdis und Runa. Und ebenso wie Erdis würde auch Runa unverheiratet bleiben.
    Überwältigt von der ungewöhnlichen mittäglichen Erschöpfung, ließ Runa sich auf ihr Lager aus Rentierfellen sinken. Augenblicklich glitt sie in einen tiefen Schlaf, und sie verspürte gleichzeitig ein sonderbares Gefühl, das sie weiter und weiter fortzuziehen schien – fort von ihrem Selbst.

K APITEL 3

Welt von morgen
    A ls sie erwachte, blickte sie sich verwirrt um. Ein dumpfes Dröhnen drang an ihr Ohr. Wieder durchflutete das seltsame Ziehen, das sie schon in dem urzeitlichen Wald gespürt hatte, ihren Körper.
    Vorsichtig wandte sie den Kopf und entdeckte ihr Spiegelbild in einem Fenster neben sich. Gespannt und gleichzeitig verwirrt studierte sie das Gesicht, das ihr entgegenblickte. Es war Myra! Sie war nicht länger Runa, die in ihrer Hütte auf einem Felllager ruhte, sie saß vielmehr auf dem Beifahrersitz eines Autos, das mit mäßiger Geschwindigkeit über einen wenig befahrenen Highway fuhr. Sie war wieder sie selbst!
    Gerade wollte sich ein Lächeln der Erleichterung auf Myras Gesicht stehlen, als ihr kleine Veränderungen auffielen. Sie streckte die Hand aus und klappte die Sonnenblende herunter: Das Gesicht, das ihr aus dem kleinen Spiegel entgegenblickte, gehörte zwar zu Myra, aber nicht zu der Myra, die sie hätte sein sollen.
    Die Myra, die hier im Auto saß und über den Highway fuhr, hatte zwar dasselbe ovale Gesicht und dieselben braungrünen Augen, sie trug die hellbraunen Haare jedoch auf Kinnlänge gekürzt und war ungefähr zwanzig Jahre älter als die Myra, die beim Bergsteigen gewesen war!
    Fasziniert betrachtete Myra ihr Ebenbild. Ein paar Fältchen um Mund und Augen hatten sich eingestellt, und die Haut an Kinn und Wangen hatte ein wenig von ihrer jugendlichen Spannkraft verloren, gleichzeitig jedoch strahlte ihr Gesicht eine ungekannte Weichheit aus, die ihm in jüngeren Jahren gefehlt hatte. Diese Weichheit verlieh der älteren Myra eine besondere Art von Schönheit und Wärme.
    Myra fiel ein Anhänger ins Auge, auf dem ein Rabe zu sehen war. Er gehörte zu einer Kette, die um ihren Hals hing. Eine solche indianische Handarbeit hatte sie sich schon lange gewünscht. Irgendwann musste sie sich ihren Wunsch erfüllt haben. Bewundernd ließ sie ihre Finger über das kühle Silber des Anhängers gleiten.
    Myra war so vertieft in ihr ungewohntes Aussehen, dass sie gar nicht merkte, wie der Himmel draußen immer grauer und dunkler wurde, weil ein Unwetter aufzog. Ein krachender Donner ließ sie hochschrecken, und sie besah sich ihre Umgebung ein wenig genauer. Auf den Bergen,

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