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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanna Seven Deers
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aber irgendwie hatte Heather es geschafft, neunzig Jahre alt zu werden, ohne dass es Myra aufgefallen war. Natürlich war Heathers Gesicht viel runzeliger, ihr langes Haar war schütter und schneeweiß geworden, und auch ihr Rücken war nicht mehr ganz so gerade wie früher, aber Heather erfreute sich noch immer ausgezeichneter Gesundheit. Ihre dunklen weisen Augen sprühten noch immer vor Lebenslust, und dieses Funkeln ließ ihr Gesicht aufblühen.
    Myras Blick schweifte hinüber zu dem Besucher. Der Mann saß steif und mit finsterem Gesichtsausdruck auf Heathers alter Couch und schenkte den beiden Besuchern keine Beachtung. Seine große, kräftige Gestalt schien in Heathers kleinem Wohnzimmer irgendwie fehl am Platz zu sein. Zu diesem Eindruck trugen auch sein eleganter schwarzer Anzug und seine kurzen schwarzen, glatt nach hinten gekämmten und mit viel Gel in Form gebrachten Haare bei, die im schwachen Licht der alten Stehlampe speckig glänzten.
    Myra und Chad beobachteten ihn einen Augenblick lang, ohne seinen Redefluss zu unterbrechen. Es entsprach dem Höflichkeitsgesetz des Stammes, keinem Redner ins Wort zu fallen, sondern so lange zu warten, bis dieser geendet hatte und das Wort an die Hinzugekommenen richtete. Myra und Chad mussten grinsen, als sie bemerkten, dass der Besucher mit allen Mitteln versuchte, Heather dazu zu bewegen, schneller zu erzählen. Aber eine Stammesälteste ließ sich nicht hetzen!
    Nach wenigen Sätzen legte Heather eine Pause ein und stand auf, um ihre Gäste zu begrüßen.
    »Schön, dass ihr gekommen seid, Kinder. Aber wie ihr seht, hättet ihr euch heute keine Gedanken um mich zu machen brauchen, denn ich habe schon seit geraumer Zeit einen Besucher.« Die alte Dame machte eine Handbewegung in Richtung Couch. »Das ist Simon Morris«, erklärte sie. »Mr Morris, das sind mein Großneffe Chad Blue Knife und seine Frau Myra. Sie leben ganz in der Nähe und kümmern sich sehr liebevoll um mich.« Dann wandte sie sich wieder Myra und Chad zu. »Mr Morris ist Historiker. Er schreibt ein Buch über die Mythen und Legenden der First Nations People in dieser Region, und man hat ihn an mich verwiesen. Ich habe ihm schon eine ganze Reihe Geschichten erzählt, aber es scheint ihm nicht langweilig zu werden …«
    »Es freut mich, Sie kennenzulernen«, fiel Simon Morris der alten Frau ins Wort. Er war nur widerwillig aufgestanden und nickte Chad und Myra kurz zu. Er schien durch ihr Kommen in irgendeiner Weise verärgert zu sein. Dann wandte er sich in dringlichem Ton an Heather. »Wir sollten jetzt wirklich weitermachen. Es ist schon spät.«
    »Das denke ich auch«, merkte Chad an. »Meinen Sie nicht, dass es an der Zeit wäre, meiner Tante ihre wohlverdiente Nachtruhe zu gönnen?«
    Morris lächelte dünn. »Natürlich. Nur noch eine Geschichte, Mrs Blue Knife, dann verabschiede ich mich.«
    »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Mr Morris. Ich möchte Tassen für Chad und Myra holen.«
    Chad und Myra setzten sich zu Morris auf die Couch. Wenig später rümpfte Myra die Nase.
    »Riechst du etwas?«, flüsterte sie Chad zu.
    »Irgendetwas riecht sehr streng«, antwortete er leise. »Aber ich weiß nicht, was es sein könnte.«
    Ohne zu zögern, stand Myra auf und ging zu dem großen Fenster hinter dem Sofa und öffnete es.
    Morris rückte an den äußersten Rand der Couch, und sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Myra fand, dass beinahe schon Feindseligkeit in seinem Blick lag. Warum? Sie konnte es sich nicht erklären.
    Heather kam mit zwei neuen Tassen zurück ins Wohnzimmer, schenkte Myra und Chad Tee ein und setzte sich wieder.
    »Ich könnte Ihnen die Geschichte von dem Raben erzählen …«, begann sie.
    »Ich habe schon mehrere Geschichten über Raben«, fiel Morris ihr unhöflich ins Wort. »Vielleicht etwas anderes?«
    »Es gibt eine sehr schöne Legende über einen Mann, der …«
    »Wie wäre es mit einer Geschichte über eine Frau? So etwas fehlt noch für mein Buch.«
    Chad öffnete den Mund, um Morris wegen seiner schlechten Manieren zurechtzuweisen, fing aber einen warnenden Blick von Myra auf und schwieg. Eine unangenehme Spannung lag in der Luft.
    Bevor Heather etwas sagen konnte, wandte Morris sich an Chad und Myra.
    »Warum warten Sie nicht einen Augenblick draußen? Die Geschichten müssen für Sie recht langweilig sein, Sie kennen sie ja wahrscheinlich in- und auswendig, und Mrs Blue Knife könnte sich dann sicher auch viel besser

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