Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
die andere Frau sprach.
Und doch – etwas begann sich in Myra zu verändern, und eine beunruhigende Gewissheit stellte sich ein: So wie sie auf einmal wusste, welchen Weg sie einschlagen musste, um zum Dorf zurückzugelangen, so wusste sie nun auch, dass Halvar der Schamane des Dorfes war und dass sie schon oft zum Sammeln von Algen am Meer gewesen war, das sich unweit vom Dorf an ein Moor anschloss.
Plötzlich war es nicht mehr das Gefühl, als sei sie im Körper eines anderen Menschen eingesperrt, auf einmal begann sie, die Welt durch Runas Augen zu sehen, Runa zu sein !
Sie spürte, wie die Myra in ihr zu verblassen begann und mit ihr die englische Sprache, die sie gesprochen hatte. Stattdessen durchströmten Runas Gedanken sie, in deren Sprache.
Myra wurde bewusst, dass sie sich in einer Zeit und an einem Ort befand, die lange, lange vergessen waren. In einer Zeit, als die Menschen noch nicht einmal Metalle kannten. Wie sie dorthin gekommen war? Sie wusste es nicht. Sie fühlte nur, dass es etwas mit den beiden Felssäulen zu tun hatte, zwischen denen sie hindurchgeschritten war.
Krampfhaft versuchte Myra, die Verbindung zu ihrer eigenen Welt zu bewahren. Doch es war vergebens! Je mehr sie mit der anderen Frau in deren Sprache redete, die auch Runas Sprache war, und je weiter sie ging, desto mehr wurde sie Runa. Es gab keinen Platz mehr in ihrem Kopf für ihre frühere Identität! Aus Myra wurde Runa mit all ihren Gedanken, ihren Vorlieben und Abneigungen und mit ihrem Wissen um die Umgebung, die Dorfgemeinschaft, die alltäglichen Aufgaben und Pflichten und die Sprache.
Myra sah sich erneut um, und was sie sah, erblickte sie nun mit Runas Augen. Und so sahen die Dinge um sie herum plötzlich ganz anders aus, denn Runa war nicht ängstlich, sondern fühlte sich behaglich und beschützt. Sie war ganz und gar zu Hause hier.
Wie selbstverständlich unterhielt sie sich mit der schlanken Frau, während sie neben ihr herging, und als die beiden Frauen sich bald darauf dem kleinen Dorf näherten, das ihr Zuhause war, gab es nur noch Runa.
Der Rauch des Feuers an den Kochstellen stieg ihr in die Nase, und sie hörte das Lachen der Kinder, die zwischen den Hütten spielten. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht.
Die beiden Frauen traten aus dem Wald, und das Dorf lag in seiner regen Geschäftigkeit vor ihnen. Den Platz, auf dem das Dorf errichtet worden war, hatten die Ältesten gut gewählt. Die Hütten standen auf einer großen Wiese, die durch den Wald vor den Nordwinden geschützt war, die aber von Süden her das Sonnenlicht hereinließ. Am Rand des Dorfes floss ein kleiner Bach, und das Moor trennte die Hütten vom Meeresstrand.
Runa begrüßte die Menschen, die ihr begegneten, mit freundlichen Gesten und blickte liebevoll auf die Dinge, die sie so sehr liebte: die Hütten, die, aus Stangen und Tierhäuten gebaut, wie riesige Pilzköpfe aus dem Boden sprossen. Die Frauen, die wie jeden Sommer am offenen Feuer kochten. Die vielen Beeren, Pilze und anderen Wildfrüchte, die für den Wintervorrat zum Trocknen zwischen den Hütten aufgehängt waren. Die Kinder, die ihre unbeschwerten Spiele spielten und überall herumtollten. Die Männer, die in kleinen Gruppen zusammensaßen und redeten und dabei Bögen aus Ästen und Sehnen herstellten und Speerspitzen, Messer und Werkzeuge aus Flint. Und die Rentiere, die die Dorfgemeinschaft als Nutztiere hielt und die Runa besonders ins Herz geschlossen hatte.
Gerade als sie sich daran erinnerte, wie sie selbst vor nicht allzu langer Zeit genauso wie die Kinder, die sie nun beobachtete, unbeschwert zwischen den Hütten herumgetollt war, blieben sie und die andere Frau vor einer der Hütten stehen. Ohne zu zögern, traten sie ein.
Im Inneren war es dunkel, denn während der Sommermonate brannte hier kein Feuer, und es dauerte eine Weile, bis Runas Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hatten.
Was sie erblickte, war ihr vertraut. Von den Holzstangen, die der Hütte ihre runde, buckelartige Form gaben, hingen unzählige Pflanzenbündel zum Trocknen. Sie würden im kommenden Winter gebraucht werden. Auf dem Boden befand sich ein einfaches Schlaflager aus Ästen, immergrünen Zweigen und Rentierfellen.
Draußen wurden Frauenstimmen laut.
»Erdis, kannst du dir unsere Arbeit ansehen?«
»Erdis, wir sind beinahe fertig!«
Erdis. Die Frau, mit der sie vom Wald hergekommen war.
Die anderen Frauen kamen herein. Sie arbeiteten an einer Decke aus Blumen und baten Erdis
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