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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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Gezwitscher der Vögel und dem flirrenden, wässrigen Licht der Morgendämmerung. Diesmal war er nicht verwirrt: Sobald er die Augen aufschlug, wusste er genau, wer er war und wo und warum. Er setzte sich mit einem klebrigen, unwilligen Ziehen der Heftpflasterstreifen auf und untersuchte die löchrigen Turnschuhe, das T-Shirt und die Shorts, die ihn vom Fußboden her anzugrinsen schienen. Auf den ersten Blick sah er, dass die Schuhe mindestens zwei Nummern zu groß waren, da sie für die gigantomanischen Watschelfüße von hakujin -Hünen gemacht waren. Und diese Bermudas! Gewiss, sie passten ihm, aber sie waren grauenhaft, lächerlich, ein idiotisches Farbengewirr, das ihn am Geisteszustand des Herstellers zweifeln ließ. Was glaubte sie denn, was er war – ein Clown oder so? Wollte sie sich über ihn lustig machen? Sein Blick fiel auf den kleinen Tisch mit den zerknüllten Süßstofftütchen und der Kaffeedose, die er in seiner Gier völlig geleert hatte, und er schämte sich. Schämte sich zutiefst. Sie hatte ihm ihr Mittagessen geopfert, ein Sofa zum Schlafen angeboten, für ihn Kleider und Schuhe und Heftpflaster geholt, und er
    beklagte sich auch noch. Undankbar war er. Ein Verbrecher. Sein Gesicht brannte vor Scham.
    Schon jetzt hatte er bei ihr eine Schuld – ein on –, die er niemals auch nur ansatzweise begleichen könnte, selbst wenn er wieder in Japan wäre und als Fabrikarbeiter in den nächsten sechs Jahren jeden verdienten Yen beiseitelegte. Dieser Gedanke demütigte ihn, ließ ihn sich wertloser fühlen als am Abend zuvor, als er in Lumpen zu ihr gekommen war. In Japan bedeutet jeder Gefallen, jede unverlangte Freundlichkeit, so gering oder altruistisch sie auch sein mag, dass derjenige, der sie empfängt, dadurch mit einer Ehrenschuld beladen wird, deren er sich nur entledigen kann, indem er den Gefallen vielfach zurückzahlt. On ist zu einem Ritual geworden und kann eine tonnenschwere Last bedeuten, sodass es den Menschen, egal, in welcher Notlage sie stecken, ein Gräuel ist, wenn man ihnen hilft. Es kann passieren, dass jemand auf der Straße überfahren wird und darauf besteht, selbst ins Krankenhaus zu kriechen, statt sich von einem Fremden Hilfe leisten zu lassen – und dieser wird sich zweifellos seinerseits abwenden, aus Respekt vor dem Schmerz und der untragbaren Bürde, die er dem anderen auferlegen würde, wenn er ihm beistünde.
    Die Feinheiten und winzigen Abstufungen dieses Systems hatte sich Hiro ein Leben lang eingeprägt, denn seine Großmutter war so unnachsichtig beim Abwägen eines on wie kaum sonst jemand in ganz Japan – jedes Geschenk, jeden Gefallen konnte sie augenblicklich in seinen präzisen materiellen Gegenwert umrechnen, und sie hegte nichts als Verachtung für jeden, der auch nur um einen Yen darunterblieb. Half man einer alten Dame über die Straße, bekam man dafür einen selbst gestrickten Pullover, eine Schachtel Kirschpralinen und eine Einladung zum Tee. Ging man hin, schuldete man der Frau eine zweiwöchige Urlaubsfahrt auf die Insel Saipan, wo sie im Sand des Schlachtfelds nach den Knochen ihrer unbegrabenen Söhne suchen konnte; lehnte man die Einladung aber ab, beging man damit ein Verbrechen, das nur von Massenmord übertroffen wurde. Die gesamte Gesellschaft war ein gewaltiges Spinnennetz aus Verpflichtungen. Wer eine unerfüllt ließ, einen Faden des Netzes zerriss, der verlor sein Gesicht, und 120 Millionen Zungen machten vorwurfsvoll »ts ts ts«.
    Plötzlich wollte er sich verstecken. Jeden Moment würde sie eintreffen, auf ihren langen weißen Beinen den Pfad entlangkommen. Was sollte er ihr sagen? Und wenn sie nun eine Tasse Kaffee trinken wollte? Was dann? Gedemütigt und mit hochroten Ohren räumte er das Chaos auf und hinterließ ihr, sauber gefaltet, seine Lumpen, als kümmerliche Anerkennung dessen, was sie für ihn getan hatte, dann huschte er zur Tür hinaus, um sich im Gebüsch zu verstecken.
    In den ausgetretenen Turnschuhen hockte er auf einem Fleckchen Sonnenlicht, spürte jeden einzelnen seiner hundertundsieben eitrigen Schnitte, Kratzer und entzündeten Insektenstiche und dachte an gar nichts – existierte nur–, als sie den Pfad entlangkam. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der hinter ihr wippte, als wäre er lebendig, und sie wirkte ein wenig verwahrlost in den ausgebeulten weißen Shorts und dem viel zu großen T-Shirt. Das T-Shirt zeigte die Silhouette eines Rennruderboots in voller Fahrt und darüber die

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