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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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mysteriöse Aufschrift CREW THANATOPSIS . Hiro hielt den Atem an, obwohl sie ihn nicht einmal bemerkt hätte, wenn sie einen halben Meter neben ihm vorbeigegangen wäre, so dicht war die Vegetation neben dem Pfad. Als sie sich dem Studio näherte, verlangsamte sie den Schritt, agierte plötzlich verstohlen, als schliche sie sich an etwas an. Er sah zu, wie sie auf Zehenspitzen die Stufen hinaufstieg, leise die Maschendrahttür aufzog, sie einen kurzen Moment zu lange offen hielt und sich dann umdrehte, um einen versierten Blick zurück auf die Lichtung zu werfen, ehe sie eintrat. Die Tür knallte hinter ihr zu wie ein Schlag ins Gesicht.
    Den ganzen Tag lang kauerte Hiro dort im Unterholz. Er döste, schlug Moskitos tot, kämpfte gegen die hartnäckigen Forderungen seines hara an und lauschte dem Tap-tap-tap, tapata-tapata, tap-tap ihrer Schreibmaschine. Als die Sonne direkt im Zenit stand, wurde er durch das Erscheinen eines tief gebräunten hakujin kurz aufgeschreckt, der sich völlig lautlos aus den Bäumen löste und Schritt um Schritt über die Lichtung schlich. Einen glückseligen Moment lang glaubte Hiro, hier biete sich ein Weg, seine Schuld mit Zinseszins zurückzuzahlen – der Kerl sei ein Vergewaltiger, ein Frauenverstümmler, ein entsprungener Irrer, und er, Hiro Tanaka, könne nun in Aktion treten und seiner Wohltäterin das großartigste Geschenk machen, nämlich ihr Leben retten –, als er enttäuscht und zugleich dankerfüllt den vertraut blinkenden Schatz des Essensbehälters bemerkte, den der Verdächtige unter den Arm geklemmt trug. Behände und geschickt schlich der Mann mit dem mächtigen, kurz geschorenen Schädel die Stufen hinauf und hängte den Behälter mit dem Mittagessen geräuschlos neben die Tür. Dann stahl er sich davon wie ein Dieb.
    Den größeren Teil des Nachmittags betrachtete Hiro den Essensbehälter mit gemischten Gefühlen – er konnte ihn ja nicht gut nehmen, nein, er schuldete ihr ohnehin schon zu viel; andererseits hatte sie ihm das Essen angeboten, oder? Jedenfalls am Vortag. Aber wer wusste schon, wie es heute war? Vielleicht hatte sie Hunger, vielleicht glaubte sie, auch einmal ein Recht auf ein Mittagessen zu haben – oder auf eine Tasse koffeinfreien Kaffee mit Süßstoff und Milchersatzpulver. Er konnte ihr dieses Essen nicht einfach wegnehmen: Was würde sie von ihm denken? Sie selbst allerdings ging nicht einmal in die Nähe des Essens, erhob sich aber öfter, als er zählen konnte, um durch den Raum zu gehen und durch den Maschendraht nachzusehen, ob der Behälter noch da war. Er fühlte sich mies. Er fühlte sich wie ein geködertes Tier, wie ein Eichhörnchen oder ein Fuchs, den man in die Falle lockte. Vor allem aber fühlte er sich hungrig.
    Als sie an diesem Tag nach Hause aufbrach – als er sich sicher war, dass sie weg war, und sich für alle Fälle gezwungen hatte, von tausend bis null zu zählen –, stahl er sich aus dem Gebüsch hervor, packte den Plastikbehälter im Vorbeilaufen und sprintete zurück in sein Versteck, wobei er schon auf dem Sandwich mit Fischaufstrich – war das Thunfisch? – herumkaute. Nachdem er gegessen hatte, das Einwickelpapier abgeleckt und die Ecken des Behälters nach den letzten versteckten Krümeln abgesucht hatte, fühlte er sich besudelt und verdorben, wie ein Alkoholiker, der der Versuchung erlegen ist, jenen ersten sträflichen Schluck zu trinken. Aber er hungerte ja wirklich, er ernährte sich nur von einem Bruchteil dessen, was er üblicherweise zu sich nahm, und obwohl er dagegen ankämpfte, wiederholte sich der Ablauf am nächsten Tag. Und dann erreichte er einen kritischen Punkt.
    Er konnte, er wollte nicht zulassen, dass er sich nochmals so vor ihr demütigte. Was glaubte er eigentlich, was er tat? Wollte er etwa bis in alle Ewigkeit im Gebüsch herumhocken, vor dem Fliegenfenster der einzigen amerikajin , die ein bisschen freundlich zu ihm gewesen war? Was sollte er denn hier anfangen – sich einen langen Bart wachsen lassen und ein Leben lang Dreck fressen, wie ein Höhlenmensch oder ein Hippie leben? Nein, er musste nach Beantown, zum Big Apple, in die City of Brotherly Love; er musste sich unter die Massen mischen, sich einen Job suchen und ein Apartment mit westlichen Möbeln und japanischen Haushaltsgeräten, mit Mikrowellenherd und Beistelltischchen und tiefen flauschigen Teppichen, die an den Wänden hochkrochen wie anbrandende Wogen. Dann würde er sicher sein, dann konnte er Minigolf spielen,

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