Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
Vom Netzwerk:
Entdecker war, gefangen und hingerichtet von irgendeinem wulstlippigen Stamm in Neuguinea oder Südamerika. Wenn das so war und wenn es ein Buch darüber gab, dann wollte Hiro es haben.
    Am nächsten Tag fasste er sich ein Herz und ging in den Laden. Es war ein dunkler, vollgestopfter Raum: Reihe um Reihe von Büchern auf Metallregalen, die an der Wand befestigt waren, der Geruch von Druckerschwärze und Schimmel und das falsche Fruchtaroma eines Frischluftsprays. Fünfzehn bis zwanzig Kunden schmökerten an den Stellagen mit ausländischen Zeitungen oder watschelten, mit Büchern beladen, durch die Gänge. Bis auf das Rascheln von liebevoll umgeblätterten Seiten war es still wie in einem Schrein. Hiro trat an den Ladentisch, wo ein breitschultriger Mann mit einer Brille im westlichen Stil und getönten Gläsern hinter der Kasse saß. Hiro räusperte sich. Der Mann, der zum Fenster hinaus ins Leere gestarrt hatte, betrachtete ihn gleichgültig.
    »Das Plakat da im Fenster, bitte«, sagte Hiro so leise, dass er sich selbst kaum hören konnte, »ist das ein Buch? Ich meine, gibt es ein Buch darüber?«
    Der Mann sah ihn einen Moment lang an, als träfe er eine Entscheidung. Schließlich sagte er mit müder Stimme: »Das ist Mishima.«
    Es war Glück, es war Schicksal, es war Magie. Ganz durcheinander stand Hiro vor dem Regal, zu dem ihn der Buchhändler gewiesen hatte – zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Titel von Mishima, jeweils in zwei, drei oder noch mehr Exemplaren, nahmen dort einen großen Teil der Wand ein. Es war, als hätte jemand seine Hand geführt: Das erste Buch, das er wählte, das allererste, war Der Weg des Samurai. Er zog es aus dem Regal, angesprochen von dem Hochglanzumschlag, über den sich duellierende Schwertkämpfer zu tanzen schienen. Er schlug das Buch gar nicht erst auf; der Umschlag genügte ihm. Der und das Plakat. Er legte dem lakonischen Ladenbesitzer das Geld hin und huschte mit seinem Schatz zur Tür hinaus, wo er aus dem Augenwinkel noch einen Blick auf das grausige Foto des gemarterten Autors warf.
    Wie die meisten japanischen Jungen war Hiro mit dem Samurai-Mythos ebenso gründlich vertraut wie amerikanische Jungen mit den Legenden von Revolverhelden, Saloonsängerinnen und Viehtreibern. Der umherziehende Samurai war, genau wie der einsame Reiter des Wilden Westens, ein tragendes Element der Geschichten im Fernsehen, im Kino, in billigen Abenteuerromanen und bunten Comics, aber auch von Klassikern wie den Siebenundvierzig Ronin , die jedes Schulkind lesen musste. Aber nach einer Phase mit acht oder neun, als er den ganzen Tag mit einem Holzschwert herumgelaufen war, die hachimaki um den Kopf geschlungen, hatte er die Begeisterung für Haarknoten und Schwerter wieder verloren: Samurais waren ihm bald herzlich egal gewesen. Trotzdem, als er Mishimas Buch aufschlug, kehrte alles zurück. Er wusste damals nichts von Mishimas rechtsradikalen Überzeugungen, von seiner Homosexualität, ja nicht einmal von seinem rituellen Selbstmord – er wusste nur, dass er sich auf einmal in einer anderen Welt befand.
    Anfangs verwirrte ihn das Buch. Es war kein Roman. Keine Schwertkämpfe, keine haarsträubenden Geschichten von Samurai-Wundertaten und erlösendem Heldentum. Nein. Es war eine Studie – oder eigentlich ein Kommentar – dieses Mannes, dieses Mishima mit den Pfeilen im Leib, über Jōchō Yamamotos uralten Moralkodex der Samurai, das Hagakure. Hiro wusste nicht ganz, was er davon halten sollte. Ich habe erkannt, dass der Weg des Samurai der Tod ist , las er da. Und: Die Menschen in diesem Leben sind wie Marionetten … der freie Wille ist Illusion. Er erfuhr, dass es dem Samurai gestattet war, Rouge aufzulegen, wenn er mit einem Kater erwachte, und dass sich Nervosität in jeder Situation beherrschen ließ, indem man sich die Ohrläppchen mit Spucke benetzte. Es kam ihm alles ein bisschen lächerlich vor.
    Aber er legte es nicht weg, obwohl es wie ein Lehrbuch oder Leitfaden war, wie etwas, was er für eine Physikstunde oder über Navigation lesen könnte. Immer wieder sah er das Bild des gemarterten Autors vor sich – erst viel später erfuhr er, dass es eine Pose war, Mishimas masochistische Hommage an den italienischen Maler eines heiligen Märtyrers –, und er arbeitete sich durch das Buch, als wäre es in einem Code geschrieben, als wäre es seine persönliche Initiation in verborgene Riten und uralte Geheimnisse, die denjenigen, der sie beherrschte, jedermann ebenbürtig

Weitere Kostenlose Bücher