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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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machen würden. Es war ein Spiel, ein Rätsel, ein Vexierbild. Hagakure – »In Blättern verborgen« –, schon der Titel war mysteriös. In den nächsten Wochen suchte er die Buchhandlung noch mehrmals auf – das Plakat war inzwischen verschwunden, stattdessen hing dort die lebensgroße Pappfigur eines alten Mannes mit Vogelgesicht und buschigem Haarschopf –, um Mishimas übrige Werke zu kaufen. Es waren meist Romane, die ihm gut gefielen, aber keins dieser Bücher hatte den Zauber des ersten. Es hatte irgendetwas an sich, obwohl er nicht sagen konnte, was es war. Wieder und wieder las er die kryptischen Passagen, wieder und wieder. Und eines Tages, so plötzlich wie die Sonne mitten in einem Gewitter durch die Wolken bricht, begriff er.
    Sie hatten ihn – zu sechst oder siebt – auf dem Baseballplatz in die Enge getrieben, hatten ihn herumgeschubst und seine Mütze mit dem Abzeichen der Yomiuri Giants in den Rinnstein geworfen. Er war voller Zorn, doch der Zorn ging über in Verzweiflung. Wann würde das aufhören, fragte er sich, und die Antwort war: niemals. An diesem Abend sprach er kaum ein Wort mit seinen Großeltern, und er fühlte sich rastlos: Er hatte keine Lust auf Fernseh-Quizshows, konnte mit seinem Walkman nichts mehr anfangen, wollte weder lesen noch für die Schule lernen. Schließlich schlug er, aus reiner Langeweile, sein zerknittertes Exemplar des Hagakure aufs Geratewohl irgendwo auf und begann zu lesen. Es ging um die moderne Gesellschaft und darum, wie verdorben und schwach sie geworden war, und mit einem Mal, als hätte jemand in seinem Kopf einen Schalter umgelegt, ergaben Mishimas Worte einen vollkommen klaren Sinn. Mit einem Mal wusste er: Das Buch handelte von Ruhm, nicht mehr und nicht weniger.
    Die Gesellschaft rings um ihn her – diese Gesellschaft, an die er sich all die Jahre seines Lebens anzupassen versucht hatte – war verdorben, verweichlicht, besessen von materiellen Dingen, von Kleinlichkeiten wie Geben und Nehmen, Verkaufen und Kaufen – und was sollte daran schon ruhmreich sein? War es etwa ruhmreich, eine Nation von Angestellten in weißen Hemden und westlichen Anzügen zu sein, die Videorekorder für den Rest der Welt baute wie ein Stamm von abgerichteten Affen? Hiro sah es, sah es ganz klar: Fujima, Morita, Kawakami und all die anderen, sie waren nichts, sie waren Eunuchen, Versager, ohne Mumm und ohne Scham, und als Erwachsene würden sie dem Yen und dem Dollar nachjagen wie all die anderen Narren, die sich über ihn lustig machten und ihn als Paria behandelten. Aber nicht er war der Paria, sie waren es. Sein Leben nach dem Kodex des Hagakure auszurichten machte ihn japanischer, als sie es waren, machte ihn reiner, besser. Es war der höchste Ausdruck von fea purē – oder nein, es ging über fea purē hinaus, drang in eine ganz andere Sphäre ein, die Sphäre von Macht und Selbstvertrauen – von Reinheit –, die das Materielle, das Fleisch, ja, den Tod selbst transzendierte. Sein ganzes Leben hatte man ihm das Gefühl der Minderwertigkeit eingeimpft, und hier war nun ein Weg, dieses Gefühl zu besiegen – nicht nur auf dem Baseballfeld, sondern auf der Straße, im Restaurant und im Theater, überall, wo er sich befinden mochte. Gegen Fujima und die Übrigen würde er sich mit der ältesten Waffe im japanischen Arsenal zur Wehr setzen. Er würde ein moderner Samurai werden.
    Jetzt aber, als er auf dem schmalen, unbequemen Sofa der amerikajin lag, mit Jōchō als Kopfkissen, schien all das eine Ewigkeit weit weg. Nach Jōchō zu leben war ihm zur zweiten Natur geworden, aber jetzt war er in Amerika, wo alle Menschen gaijin waren und niemand etwas auf Jōchō gab, und er würde einen neuen Kodex, eine neue Lebensregel, finden müssen. Seine Peiniger waren drüben in Yokohama und in Tokio, sie fuhren auf der Tokachimaru mit Kurs auf New York, und er war frei – oder er würde es sein, wenn er es nur nach Beantown oder nach Philadelphia, in die »Stadt der brüderlichen Liebe«, schaffte. Dieser Gedanke tröstete ihn – er stellte sich eine Stadt wie Tokio vor, mit Wolkenkratzern und Hochbahnen und dem rauen Knurren des Verkehrs, nur die Gesichter waren dort anders – weiß und schwarz und gelb und alles mögliche dazwischen –, und alle erglühten sie in der Verzückung brüderlicher Liebe. Er hielt dieses Bild fest, wie er an einem Bonbon gelutscht hätte. Und dann schloss er die Augen und ließ die Nacht sich über ihn breiten.
    Er erwachte zum lebhaften

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