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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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neben dem Altar stehen und fuhr fort zu beten, leiser jetzt und in einer Sprache, die ich nicht verstand.
    Meine Gedanken führten einen wirren Tanz auf. Ich wußte noch immer nicht, wo ich mich befand, geschweige denn, wie ich in diese Situation geraten war, aber ich begriff, daß meine Chancen, lebend von hier wegzukommen, praktisch gleich Null waren.
    Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, erwachte der Priester aus seiner starren Haltung, umschloß den Griff des Dolches mit beiden Händen und senkte die Waffe auf meine Brust. Die Spitze berührte nur ganz leicht meine Haut, aber schon diese sanfte Berührung reichte, sie zu ritzen und mich vor Schmerz aufstöhnen zu lassen. Es war, als wäre das Messer zuvor in Säure getaucht worden.
    Der Gesang der Priester wurde lauter und gleichzeitig drohender. Für einen winzigen Moment glaubte ich, einen gewaltigen finsteren Schatten über den Himmel huschen zu sehen, aber ich mußte mich getäuscht haben. Als ich genauer hinsah, war der Himmel klar und leer, und ich schrieb die Beobachtung meiner Furcht zu.
    »Quetzalcoatl!« rief der Oberpriester mit schriller Stimme.
    »Nimm dieses Opfer und schenke uns deine Gunst dafür!«
    Seine Hände mit dem Messer hoben sich. Ich konnte sehen, wie sich seine Schultermuskeln unter dem dünnen Mantel spannten. Eine halbe Sekunde später war er tot.
    Ein armlanger, gefiederter Pfeil jagte lautlos aus der Dunkelheit, schlug mit einem trockenen Knall durch die Holzmaske vor seinem Gesicht und warf ihn zurück. Er taumelte.
    Das Messer löste sich aus seinen Händen und fiel klappernd neben mir auf den Altar. Die Augen hinter den schmalen Sehschlitzen weiteten sich ungläubig und brachen. Für eine halbe Sekunde stand er noch reglos und hoch aufgerichtet da, dann kippte er mit einer zeitlupenhaft langsamen Bewegung nach vorne und fiel schwer auf meine Beine.
    Ein vielstimmiger Schrei gellte durch die Luft. Plötzlich waren überall Schatten, huschende Gestalten und die Schreie der Kämpfenden, und ich konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie drei oder vier Priester gleichzeitig unter einem Hagel von Pfeilen zu Boden sanken. Eine gewaltige, in einen schwarzen Lederharnisch gekleidete Gestalt erschien zwischen den flüchtenden Priestern und schwang ein armlanges Schwert.
    Ich versuchte verzweifelt, den Opferdolch zu erreichen, den der Priester fallengelassen hatte. Die Waffe lag wenige Zentimeter neben meiner Hand, aber die Fesseln ließen mir nicht genug Bewegungsfreiheit. Mit aller Kraft zerrte ich daran. Die Stricke bissen tief in meine Haut, aber ich ignorierte den brennenden Schmerz und versuchte es weiter.
    Meine Fingerspitzen näherten sich der blitzenden Schneide aus geschliffenem Obsidian und berührten sie.
    »Das Opfer!« schrie einer der Priester. »Vollzieht das Opfer, oder Quetzalcoatl wird uns mit seinem Zorn strafen! Wir …«
    Der Rest des Satzes ging in einem gräßlichen Schrei unter, der mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.
    Ein Mann torkelte an mir vorüber und brach zusammen.
    Aber auch die Angreifer mußten einen hohen Preis zahlen.

    Die Priester hatten Dolche und mit Obsidiansplittern besetzte Keulen unter ihren Gewändern hervorgezogen, und von irgendwoher erklangen die hastigen Schritte zahlreicher Füße, offenbar erhielten sie Verstärkung.
    Ich verdoppelte meine Anstrengungen, Millimeter für Millimeter zog ich das Messer an meine Hand heran, bekam die Klinge schließlich mit zwei Fingern zu fassen und drehte sie herum. Beim ersten Versuch schnitt ich mir selbst in den Arm, aber ich verbiß mir auch diesen weiteren Schmerz, drehte den Dolch eine Winzigkeit und begann mit unge-schickten, ruckhaften Bewegungen das fingerdicke Seil zu zersägen, das mein Handgelenk hielt.
    Hinter mir schien der Kampf seinen Höhepunkt zu erreichen.
    Ich sah kaum mehr als huschende Schatten, aber es mußten sehr viele Männer sein, die da gegeneinander kämpften.
    »Das Opfer!« kreischte eine Stimme. »Laßt es nicht entkommen! Quetzalcoatl wird uns alle verdammen!«
    Mit einem letzten, verzweifelten Ruck durchtrennte ich die Handfessel, streifte das Band, das meinen Kopf niederhielt, ab und warf mich zur Seite.
    Meine Bewegung kam keinen Sekundenbruchteil zu früh.
    Einer der maskierten Priester erschien mit einem gellenden Schrei neben dem Altar, wehrte einen Angreifer mit einem Tritt ab und schwang seine Keule. Ich wich dem Hieb im letzten Moment aus, riß das Messer hoch und stieß mit aller Wucht

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