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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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denen ich gefesselt war, hielten sie eisern fest. »Schweig, Ungläubiger!« zischte eine Stimme. Die Hand, die mich geschlagen hatte, hob sich zu einem weiteren Hieb, verharrte aber wenige Zentimeter über meinem Gesicht und schlug nicht noch einmal zu.
    Ich versuchte das Gesicht zu erkennen, das darüber sichtbar wurde. Im ersten Moment sah ich nichts als grotesk verzerrte Linien und Züge, die nur entfernt an ein menschliches Antlitz erinnerten. Die teuflische Fratze beugte sich wild grimassierend über mich …
    Dann zerplatzte die Vision. Ich war zumindest noch nicht in der Hölle, und die entsetzliche Larve über mir gehörte nicht zu einem Dämon, der gerade daranging, sein Frühstück zu tranchieren.
    Das vermeintliche Gesicht war eine bizarre hölzerne Maske, der bloß der flackernde Schein der Flammen unheimliches Leben verliehen hatte, eine Maske, die eine grausige Mischung zwischen einem Menschen und einem Jaguar darstellte. Die Augen hinter den schmalen, in die Pupillen des stilisierten Jaguars eingearbeiteten Sehschlitzen musterten mich kalt.
    »Störe die Zeremonie nicht«, zischte der Mann. »Wenn du noch einen Laut von dir gibst, lasse ich dir die Zunge herausschneiden.« Er schwieg einen Moment, um seinen Worten die gehörige Wirkung zu verleihen, und fügte, leiser und etwas sanfter, hinzu: »Du hast die Wahl zwischen einem leichten und einem schweren Tod, Ungläubiger. Also schweig jetzt!«
    Ich hätte gar keinen Tod vorgezogen. Instinktiv setzte ich dazu an, etwas zu sagen, besann mich aber im letzten Moment und preßte nur die Lippen aufeinander. Der Mann mit der Jaguarmaske nickte befriedigt.
    »So ist es besser«, sagte er. Er sprach sehr leise, als hätte er Angst, daß seine Worte von jemand anderem als mir gehört werden könnten, und als er den Kopf hob und in die Richtung sah, aus der der Chor der Singenden kam, glaubte ich fast so etwas wie Furcht in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Er trug einen langen, bunt bestickten Mantel, der seine Gestalt bis an die Knöchel verhüllte, und zu der Jaguarmaske einen barbarischen Federschmuck. Seine Hände waren schmal und sehnig, und um beide Gelenke schmiegten sich breite, mit großer Kunstfertigkeit aus Gold gearbeitete Armbänder.
    Der Chor der Singenden kam näher; ich hörte das Geräusch zahlreicher nackter Füße, die über harten Fels schleiften, das Klirren von Metall und Stein, das Rascheln von Stoff. Der Gesang wurde lauter und zugleich schneller, steigerte sich zu einem drohenden, beinahe hypnotischen Singsang. Gleichzeitig wurde der Weihrauchgeruch übermächtig.
    Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und vor Entsetzen hätte ich beinahe laut aufgeschrien: Der Mann neben mir war ein Priester, der Stein, auf dem ich lag, ein Altar, und der Gesang Teil einer Opferung.
    Meiner Opferung.
    Mit aller Gewalt stemmte ich mich gegen die Stricke, die mich auf dem kalten, glattgeschliffenen Steinaltar hielten.
    Ich spürte, wie die Seile aus geflochtenem Hanf in meine Haut einschnitten, aber meine Kräfte reichten nicht, um sie zu zerreißen, und meine Anstrengungen entlockten den Augen hinter der geschnitzten Jaguarmaske nur ein amüsiertes Glitzern.
    »Warum wehrst du dich, Ungläubiger?« fragte der Mann ruhig. Der Gesang war nach einem gewaltigen Crescendo schlagartig verstummt, und der Chor, Männer wie der neben mir, in lange, dunkle Mäntel und bizarre Holzmasken gekleidet, hatte einen engen Kreis um den Altar und mich gebildet.
    »Quetzalcoatl!« rief der Mann mit der Jaguarmaske mit erhobener Stimme. »Deine unwürdigen Diener rufen dich.
    Zeige dich, Quetzalcoatl, oh du gefiederte Schlange, steige herab zu den Menschen und nimm dieses Opfer, das wir dir bringen!«
    Er hob die Arme in einer langsamen, beschwörenden Geste und blieb endlose Sekunden so stehen, reglos, die Hände geöffnet, als wolle er nach den Sternen greifen, die glitzernd am klaren Nachthimmel standen.
    »Was … was habt ihr vor?« keuchte ich. Nicht, daß ich es mir nicht denken konnte …
    Der Mann wandte sich um und starrte mich wortlos aus dunklen Augen an. Einer der anderen trat neben ihn, reichte ihm eine flache steinerne Schale und ein Messer und entfernte sich mit gesenktem Haupt wieder. Der Gesang setzte wieder ein.
    Mein Herz schien einen schmerzhaften Sprung zu machen, als ich die rasiermesserscharfe Schneide des Obsidi-andolches sah. Der Oberpriester blieb, den Dolch auf beiden Handflächen vor sich haltend und die Augen geschlossen,

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