Der Sand der Zeit
tun. Es ist über tausend Jahre her!«
»Unschuldig!« Hellmark lachte, aber es war ein Lachen, das mich innerlich erstarren ließ. »Unschuldig!« sagte er noch einmal. »Kein Mensch ist unschuldig, du Narr! Und wäre er es, was zählt ein Menschenleben gegen den Fluch, der im Namen eines Gottes ausgesprochen wurde? Ein Leben gegen hundert, das war es, was ich im Namen Odins schwor, des Obersten der Asen. Und der Schwur wird eingelöst!«
»Aber es sind unschuldige Menschen!« rief ich verzweifelt.
»Was nutzt eine Rache, wenn sie an Unschuldigen vollzogen wird?«
»Es ist Odins Fluch«, wiederholte Hellmark stur.
»Kein sterblicher Mensch wird mich daran hindern, ihn zu vollziehen!«
»Es ist zu spät, Hellmark«, antwortete ich. »Deine Zeit ist vorbei. Die Welt, in deren Geschicke du dich einmischst, ist nicht mehr die deine. Die Zeiten der Asen sind längst vorüber.« Diesmal dauerte es einen Moment, ehe Hellmark antwortete. Und er wirkte unsicher. Ich spürte, daß ich ihn getroffen hatte.
»Welche Rolle spielen hundert oder auch tausend Jahre, wenn es um Gerechtigkeit geht?« sagte er. Aber er kam nicht näher. Das Schwert, das er schon zum entscheidenden Schlag erhoben hatte, verharrte reglos in der Luft. »Du hast recht, deine Welt ist nicht mehr die der Asen, und Walhalla ist längst im Nebel der Vergangenheit versunken. Aber das Wort der Götter gilt noch immer. Ich verfluchte Erickson im Namen Odins, und nicht einmal er selbst wird mich daran hindern, den Fluch einzulösen.«
»Und du glaubst, ein Unrecht mit einem anderen, noch größeren wiedergutmachen zu können?«
»Vielleicht erscheint es dir wie ein Unrecht, kleiner Mann«, sagte Hellmark. »Was zählt schon deine Meinung?«
»Willst du, daß man auf deinen Namen spuckt, Hellmark von Sjöde?« sagte Becker leise. »Willst du wirklich, daß der Name Hellmark in Zukunft für Unrecht und Mord steht?«
Hellmark starrte ihn an. In seinem Gesicht arbeitete es.
Aber er erwiderte nichts. »Wenn du der Mann bist, für den ich dich halte«, sagte ich, »dann bist du nicht so ungerecht.
Du tötest nicht Unschuldige, um einen Verrat zu rächen. Gib mir eine Chance!« verlangte ich. »Wenn du ein Opfer haben willst, dann nimm mich.«
»Dich?« Diesmal war ich sicher, ein leises Lachen in Hellmarks Worten zu hören. »Was nutzt ein Leben, wenn ich hundert verlangte? Aber dein Mut imponiert mir, kleiner Mann. Obgleich ich nicht sicher bin, ob es nicht nur Frechheit ist. Aber du sollst deine Chance haben. Ich werde dir beweisen, wie großmütig Hellmark von Sjöde sein kann.«
»Dann verschonst du die Menschen hier?«
»Vielleicht«, antwortete Hellmark. »Ich gebe dir die Chance, die du haben wolltest. Es war Rache an Leif Erickson, die ich verlangte. Vollziehst du sie, so wird den Menschen in dieser Stadt kein Leid getan, und alles wird sein, als wäre nichts geschehen.«
»Wie … meinst du das?« fragte ich unsicher. Ich sah Becker an, aber er wich meinem Blick aus.
»Versagst du aber«, fuhr Hellmark ungerührt fort, »zahlst du mit deinem Leben und dem hundert anderer dafür. Und dein eigenes Schicksal wird schlimmer sein als die Feuer der Hölle.« Er lachte ganz leise und sein Blick wurde noch härter. »Nun? Bist du noch immer bereit, für sie zu kämpfen?«
»Das bin ich«, antwortete ich, obwohl ich es ganz und gar nicht war. Irgend etwas sagte mir, daß ich besser daran täte, Hellmarks Warnung ernst zu nehmen. Aber ich konnte nicht mehr zurück.
»Ich werde es tun«, sagte ich noch einmal.
»So sei es«, sagte Hellmark. Dann wandte er sich zu Becker um und sah ihn an, und auch Becker nickte und sagte:
»So sei es.«
Dann hob er die Hand.
Und jetzt, endlich, begriff ich. Aber es war zu spät.
Für einen kurzen, unsagbar kurzen Moment hatte ich das Gefühl, innerlich zu Eis zu erstarren. Die Wirklichkeit um mich herum zerriß, schwarze Unendlichkeit schlug wie eine Woge über mir zusammen, dann ergriff ein ungeheurer, formloser Wirbel meinen Geist, löschte mein Bewußtsein aus und riß mich hinab in den Strudel der Zeit …
Ich erwachte. Ich wußte nicht, wo ich war, und ich wußte nicht, wer ich war. Mein Bewußtsein tauchte aus einem unendlich tiefen, finsteren Schacht empor, und es war, als wäre ich neu geboren, frei von allen Erinnerungen an das Leben, das ich vorher geführt hatte; mein Kopf war leer wie ein weißes unbeschriebenes Blatt.
Das erste, was ich fühlte, war Müdigkeit, als hätte mich der Schlaf, in dem
Weitere Kostenlose Bücher