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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ich gelegen hatte, nicht erfrischt, sondern im Gegenteil erschöpft; dann einen vagen, nicht lokalisierbaren Schmerz, einen dumpfen Druck wie von einem unsichtbaren Gewicht, das auf meinem Körper lastete.
    Ich wollte die Augen öffnen, aber mir fehlte die Kraft dazu.
    Trotzdem sah ich Licht: flackernden blutroten Schein wie von Flammen, der durch meine geschlossenen Lider drang.
    Ich fror. Kalte Zugluft streifte meinen Leib, und ich fühlte, daß ich nackt war. Gleichzeitig spürte ich die Wärme von Flammen auf beiden Oberarmen.
    Ein schwacher, süßlicher Geruch wie nach Weihrauch lag in der Luft, und irgendwo weit, weit am Rande meines Bewußtseins waren Stimmen. Ich verstand die Worte nicht, und es dauerte eine Zeit, bis ich bemerkte, daß es Gesang war, was ich hörte.
    Ich wollte mich bewegen, aber es ging nicht. Im ersten Moment glaubte ich, es wäre die Erschöpfung, die meine Glieder noch lähmte, dann, als das Gefühl nach und nach in meinen Körper zurückkehrte, spürte ich, daß ich gefesselt war; meine Hand- und Fußgelenke waren mit breiten, roh geflochtenen Stricken aus Hanf und Stroh gebunden, die so fest saßen, daß es weh tat.
    Der Weihrauchgeruch und der dumpfe, rhythmische Gesang wurden deutlicher, und von beiden ging etwas zutiefst Beunruhigendes aus. Ich war in Gefahr. Der Gedanke entstand klar und mit fast schmerzhafter Wucht hinter meiner Stirn, so plötzlich, als wäre er nicht meinem eigenen Bewußtsein entsprungen, sondern als eine Warnung von außen an mich herangetragen worden. Wieder versuchte ich, die Augen zu öffnen, und diesmal gelang es mir. Über mir war ein klarer, mondloser Himmel. Es war Nacht, und das glitzernde Band der Milchstraße spannte sich wie ein Diadem aus Millionen winziger Diamantsplitter über den westlichen Teil des Firmaments. Hinter und über mir waren Schatten, Schatten und Schritte, und der Gesang wurde lauter, als bewege sich der Chor der Singenden langsam auf mich zu.
    Für einen winzigen Moment stieg Panik in mir empor, aber das Gefühl verging so rasch, wie es gekommen war. Ich versuchte mich wieder zu bewegen, langsamer und vorsichtiger diesmal, gerade weit genug, um die Festigkeit meiner Fesseln zu testen. Das Ergebnis war entmutigend. Die Stricke gaben keinen Zentimeter nach. Ich lag mit dem Rücken auf Stein, kühlem, sorgsam geglättetem Stein. Meine Arme und Beine waren leicht vom Körper abgespreizt, und ein breites, ebenfalls straff angelegtes Lederband preßte meine Stirn herab. Ich konnte nicht einmal den Kopf drehen. Die Wärme, die ich gefühlt hatte, stammte von zwei flackernden Feuern, die in mächtigen steinernen Schalen rechts und links von mir brannten. Ich wußte immer noch nicht, wo ich war, aber meine Umgebung weckte unangenehme Assoziationen in mir. Ich kam mir ein bißchen vor wie ein gerupftes Hähnchen auf einem Grill, oder wie ein Opferlamm auf dem Altar.
    Keiner der beiden Vergleiche gefiel mir besonders. Langsam und beinahe widerwillig kamen die Erinnerungen zurück, zuerst unzusammenhängend, nicht mehr als Bilder und blitzartige Visionen, die wild in meinem Kopf durcheinan-derwirbelten, dann Worte, Namen, unwichtige Kleinigkeiten und Dinge aus meinem alltäglichen Leben, die ich erlebt und längst wieder vergessen hatte. Ein Wort fiel mir ein: Craven, der englische Ausdruck für Feigling.

    Nein, das war falsch. Es war mehr als ein Wort, es war ein Name. Mein Name. Craven. Mein Name war Craven. Robert Craven.
    Mit dem Namen kamen andere Erinnerungen, Bilder aus meiner Kindheit, meiner Jugend … Es war so, wie es vom Moment des Todes behauptet wird: Mein gesamtes Leben zog blitzartig an mir vorbei, doch ich starb nicht, sondern schien
    , ganz im Gegenteil, zu neuem Leben zu erwachen, als wäre ich tot gewesen, und jetzt …
    Ich stöhnte, als irgendwo in meinen Gedanken eine letzte Barriere fiel und meine Erinnerungen mit einem einzigen, schmerzhaften Schlag zurückkehrten. Plötzlich wußte ich wieder alles.
    Havilland. Hellmark. Becker und wieder Hellmark, dem ich dieses Wahnsinnsversprechen gegeben hatte, ohne zu wissen, worauf ich mich einließ. War es möglich, daß ich all dies wirklich erlebt hatte, oder narrte mich die Erinnerung, war sie vielleicht nur Teil eines bizarren Fiebertraumes?
    »Odin …«, flüsterte ich.
    Ein harter Schlag traf mein Gesicht, und der brennende Schmerz riß mich endgültig in die Wirklichkeit zurück.
    Instinktiv versuchte ich die Hände vor das Gesicht zu heben, aber die Stricke, mit

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