Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
fast alles … jeden Wohnsitz, Freundinnen vor seiner Ehe mit Elena Mishajlova, die Briefe an seine Eltern in Nowosibirsk, die aktive Zeit in der Partei …«
»Sein Sohn«, flüstert Joona.
»Seine Ehefrau gehörte ebenfalls zu den ausgewählten Ingenieuren, aber sie starb im Kindbett«, fährt Karpin fort.
»Der Sohn«, wiederholt Joona.
Karpin steht auf, öffnet einen Holzschrank, zieht eine schwere Tasche heraus und stellt sie auf den Tisch. Als er die Hülle entfernt, sieht Joona, dass es sich um einen Filmprojektor für Sechzehnmillimeterfilme handelt.
Nikita Karpin bittet Joona, die Vorhänge zu schließen, und holt eine Filmrolle aus seiner grauen Lade.
»Das hier ist ein privater Film aus der Zeit in Leninsk, und ich finde, du solltest ihn sehen …«
Der Projektor rattert los, und das Bild wird direkt auf die helle Medaillon-Tapete projiziert. Karpin justiert die Bildschärfe und setzt sich wieder.
Die Lichtstärke pulsiert, aber ansonsten sind die Bilder scharf. Die Kamera steht offenbar auf einem Stativ.
Offenbar hat Jurek Walters Vater den Film während seiner Zeit in Leninsk gedreht.
Auf der Wand vor ihm sieht er die Rückseite eines Hauses mit einem schattigen Garten. Sonnenstrahlen fallen durchs Laub, und über den Bäumen im Hintergrund erhebt sich ein Hochspannungsmast.
Das Bild zittert ein wenig, dann ist auf einmal Jureks Vater zu sehen. Er legt eine schwere Tasche ins hohe Gras, öffnet sie und hebt vier Klappstühle heraus. Ein Junge mit gekämmten Haaren kommt von links ins Bild. Er ist ungefähr sieben Jahre alt und hat feingeschnittene Gesichtszüge und große, helle Augen.
Das ist mit Sicherheit Jurek, denkt Joona und wagt es kaum zu atmen.
Der Junge spricht, aber man hört nur das Rattern des Projektors.
Vater und Sohn klappen gemeinsam die Metallbeine der Tasche aus, die sich in einen Holztisch verwandelt, als sie umgedreht wird.
Der junge Jurek verschwindet aus dem Bild, kehrt aber unmittelbar darauf aus einer anderen Richtung mit einer Wasserkaraffe wieder auf. Das geht so schnell, dass Joona denkt, es muss mit Hilfe eines Tricks gefilmt worden sein.
Jurek beißt sich auf die Lippen und hat die Hände zu Fäusten geballt, als der Vater mit ihm spricht.
Er verschwindet erneut aus dem Bild, und sein Vater folgt ihm mit großen Schritten.
Das Wasser in der Karaffe schwappt glitzernd.
Einen Moment später taucht Jurek mit einer weißen Papiertüte im Bild auf, und kurz danach kehrt der Vater mit einem anderen Kind auf den Schultern zurück.
Der Vater wirft den Kopf und galoppiert wie ein Pferd.
Joona kann das Gesicht des zweiten Kindes nicht sehen.
Sein Kopf ist oberhalb des Bildrands, aber Jurek winkt ihm zu.
Die Füße mit den kleinen Schuhen treten gegen die Brust des Vaters.
Jurek ruft etwas, und als der Vater das zweite Kind vor dem Tisch ins Gras herunterlässt, sieht Joona, dass es auch Jurek ist.
Die identischen Jungen starren mit ernsten Gesichtern in die Kamera. Der Schatten einer Wolke schwebt über den Garten. Der Vater nimmt die Papiertüte und verschwindet aus dem Bild.
»Eineiige Zwillinge«, meint der alte Agent lächelnd und stoppt den Projektor.
»Zwillinge«, wiederholt Joona.
»Deshalb ist ihre Mutter gestorben.«
131
Joona starrt auf die Medaillon-Tapete und wiederholt leise, dass der Sandmann Jurek Walters Zwillingsbruder ist.
Er hält Felicia gefangen.
Ihn hat Lumi im Garten gesehen, als sie der Katze zuwinken wollte.
Deshalb konnte Susanne Hjälm in der Dunkelheit auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus Jurek Walter sehen.
Aus dem erhitzten Projektor dringt leises Ticken.
Joona nimmt das Saftglas, steht auf, zieht die Vorhänge auf und stellt sich ans Fenster. Er blickt auf die eisbedeckte Fläche des Flusses Klyazma hinab.
»Wie konntest du das alles finden?«, fragt er, sobald er spürt, dass seine Stimme wieder trägt. »Wie viele Mappen und Filme musstest du dafür durchforsten? Ich meine, ihr müsst doch Material zu Millionen von Menschen archiviert haben.«
»Ja, aber es gibt nur einen, der sich aus Leninsk nach Schweden abgesetzt hat«, antwortet Karpin ruhig.
»Jureks Vater ist nach Schweden geflohen?«
»Der August 1957 war ein schwieriger Monat in Leninsk«, antwortet Nikita kryptisch und zündet sich eine Zigarette an.
»Was ist passiert?«
»Wir unternahmen zwei Versuche, die Semjorka aufsteigen zu lassen. Beim ersten Mal brannte ein Booster, und die Rakete stürzte nach 400 Kilometern ab. Beim zweiten Mal –
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