Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
was die Sache komplizierter macht …«
Joona folgt Karpin in ein großes, schönes Zimmer, dessen Einrichtung offenbar seit der vorletzten Jahrhundertwende nicht mehr angetastet wurde.
Die alte Medaillon-Tapete glänzt wie fette Sahne. Über einem schwarzen Flügel hängt ein gerahmtes Porträt Stanislawskis.
Der russische Agent schenkt aus einer großen, beschlagenen Karaffe ein Getränk ein. Auf dem Tisch liegt eine graue Papplade.
»Fliederblütensaft«, sagt er und klopft sich auf die Leber.
Als Joona sein Glas Saft bekommen hat und sie einander gegenübersitzen, verwandelt sich Nikitas Gesicht. Das gutmütige Lächeln erlischt, als hätte es nie existiert.
»Als wir uns das letzte Mal begegnet sind … war das meiste noch geheim, aber damals führte ich noch eine Gruppe mit Spezialausbildung, die unter dem Namen Die Kurzen firmierte«, sagt Nikita leise. »Meine Männer und ich … wir waren ziemlich harte Burschen …«
Er lehnt sich auf seinem Stuhl so weit zurück, dass die Rückenlehne ächzt.
»Vielleicht werde ich dafür ja eines Tages in der Hölle schmoren«, sagt er ernst. »Oder es gibt einen Engel, der all jene beschützt, die das Vaterland verteidigen.«
Nikitas geäderte Hände liegen zwischen der grauen Lade und der Karaffe mit Saft.
»Ich war immer dafür, härter gegen die Terroristen in Tschetschenien durchzugreifen«, erläutert er mit ernster Stimme. »Ich bin stolz auf unseren Einsatz in Beslan, und wenn du mich fragst, war Anna Politkowskaja eine Verräterin.«
Er stellt das Saftglas ab und atmet tief durch.
»Ich habe mir das Material angesehen, das euer Staatsschutz dem FSB geschickt hat … es ist weiß Gott nicht viel, was ihr herausgefunden habt, Joona Linna.«
»Das ist wohl wahr«, erwidert Joona geduldig.
»Wir nannten die jungen Ingenieure und Konstrukteure, die zum Kosmodrom Leninsk geschickt wurden, Raketentreibstoff.«
»Raketentreibstoff?«
»Alles, was mit dem Weltraumprogramm zusammenhing, sollte geheim bleiben. Jeder Bericht war sorgfältig verschlüsselt. Es war nicht vorgesehen, dass die Ingenieure jemals von dort zurückkehren würden. Sie waren die am besten ausgebildeten Wissenschaftler ihrer Zeit, wurden aber behandelt wie Vieh.«
Der KGB-Agent verstummt. Joona schenkt sich noch etwas Saft nach und trinkt.
»Meine Großmutter hat mir beigebracht, wie man Fliederblütensaft macht.«
»Schmeckt gut.«
»Es war natürlich goldrichtig von dir, zu mir zu kommen, Joona Linna«, sagt Nikita Karpin und streicht sich über den Mund. »Ich habe mir ein Dossier aus dem Archiv meiner früheren Gruppe ausgeliehen.«
130
Der alte Mann holt eine graue Mappe aus der ebenso grauen Kartonlade, öffnet sie und legt ein Bild vor Joona auf den Tisch. Es ist ein Gruppenfoto von zweiundzwanzig Männern vor einer verputzten Steintreppe.
»Die Aufnahme ist 1955 in Leninsk entstanden«, erläutert Karpin, und seine Stimme hat einen neuen Tonfall bekommen.
In der Mitte der vordersten Reihe sitzt der legendäre Sergei Koroljow still lächelnd auf einer der herbeigetragenen Parkbänke, der Chefkonstrukteur des ersten Satelliten, der auch den ersten Menschen ins Weltall geschickt hat.
»Sieh dir die Männer in der hintersten Reihe an.«
Joona beugt sich vor und mustert die Gesichter. Halb verdeckt von einem Mann mit zerzausten Haaren sieht man einen schlanken Mann mit hagerem Gesicht und hellen Augen.
Joona zieht den Kopf zurück, als hätte er Ammoniak eingeatmet.
Er hat Jurek Walters Vater gefunden.
»Ich sehe ihn«, flüstert Joona.
»Stalins Verwaltung wählte die jüngsten und begabtesten Ingenieure aus«, erzählt Nikita ruhig und wirft einen alten sowjetischen Pass auf den Tisch. Und Vadim Levanov war zweifellos einer der besten.«
Joona öffnet den Pass und spürt, dass sein Herz schneller schlägt.
Das Passfoto ist die Schwarzweißaufnahme eines Mannes, der Jurek Walter ähnelt, allerdings hat er wärmere Augen und keine Falten im Gesicht. Vadim Levanov ist also der Name von Jurek Walters Vater, denkt Joona.
Seine Reise ist nicht vergeblich gewesen. Jetzt können sie wirklich anfangen, Jurek Walters Lebensweg nachzuzeichnen.
Nikita verteilt eine Karte mit zehn Fingerabdrücken und kleine private Bilder von der Taufe und aus der Studentenzeit des Vaters auf dem Tisch. Schulbücher aus der Grundschule und eine Kinderzeichnung, die ein Auto mit einem Schornstein auf dem Dach zeigt.
»Was willst du über ihn wissen?«, fragt Karpin lächelnd. »Wir haben
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