Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Sie atmet schnell, und ihre Daunenweste spannt über den Brüsten. Sie bewegt sich ein paar Schritte zur Seite, pustet eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und holt zum nächsten Schlag aus.
»Sie lassen verdammt nochmal die Finger von meiner Fracht«, brüllt sie ihn an und will wieder zuschlagen, aber Joona bewegt sich schnell auf sie zu, packt sie mit der einen Hand am Hals, tritt mit dem Fuß in ihre Kniekehle, so dass ihr Bein nachgibt, reißt sie zu Boden und richtet seine Pistole auf sie.
»Landeskriminalpolizei«, sagt er.
Sie bleibt jammernd auf Deck liegen und beobachtet ihn, als er den Hammer aufhebt, mit beiden Händen schwingt und das Schloss zertrümmert. Ein Stück Metall landet klappernd zehn Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt.
Joona zieht die Türen auf, sieht aber nur große Kartons mit Fernsehapparaten. Er reißt ein paar von ihnen heraus, aber Disa ist nicht da. Er wischt sich Blut aus dem Gesicht, läuft weiter an den Autos und an einem schwarzen Container vorbei und steigt die Treppe zum Oberdeck hinauf.
Joona rennt an der Reling entlang und atmet keuchend in der eisigen Luft. Vor dem Schiff sieht man die schwarze Rinne in der verschneiten Eisfläche, die ein Eisbrecher durch die Schären hindurch bis zum offenen Meer freigebrochen hat.
Rund um eine Winterboje schaukelt ein Mosaik aus zerbrochenem Eis.
Das Schiff ist mittlerweile zwanzig Meter vom Kai entfernt, so dass Joona plötzlich einen freien Blick auf den ganzen Hafen hat. Der Himmel ist schwarz, aber das Hafengelände wird von Scheinwerfern erhellt.
Es sieht, dass ein großer Kran einen wartenden Güterzug belädt. Als Joona entdeckt, dass drei seiner Wagen mit den gleichen roten Containern beladen sind, bekommt er panische Angst.
Er läuft nach achtern, zieht sein Handy heraus, ruft die Leitstelle an und verlangt, dass der gesamte Verkehr aus dem Stockholmer Freihafen gestoppt wird. Der Diensthabende weiß, wer Joona Linna ist, und verbindet ihn mit dem Polizeichef.
»Der gesamte Zugverkehr aus dem Freihafen muss gestoppt werden«, wiederholt Joona keuchend.
»Das ist unmöglich«, entgegnet der Polizeibeamte ruhig.
Joona klettert auf die Ankerwinde und von ihr aus auf die Reling. Er sieht, dass ein roter Container zu einem wartenden Sattelschlepper gefahren wird.
»Wir müssen den gesamten Verkehr stoppen«, sagt Joona wieder.
»Das lässt sich leider nicht durchführen«, erklärt der Polizeichef. »Wir können bloß …«
»Dann mache ich es eben selbst«, unterbricht Joona ihn kurz und springt.
Als er in das null Grad kalte Wasser eintaucht, fühlt sich das an wie ein Blitz aus Eis oder als hätte er eine Adrenalinspritze ins Herz bekommen. Es rauscht in seinen Ohren. Der Körper ist mit der jähen Abkühlung überfordert. Joona versinkt im schwarzen Wasser, verliert für Sekunden das Bewusstsein und träumt von der Brautkrone aus geflochtener Birkenwurzel. Er hat kein Gefühl mehr in Händen und Füßen, weiß aber, dass er auftauchen muss, tritt mit den Beinen und bremst so endlich die Abwärtsbewegung.
166
Joona durchstößt den Eisbrei an der Oberfläche, versucht, Ruhe zu bewahren und schnappt nach Luft.
Sein Kopf brennt vor Kälte, aber er ist bei Bewusstsein.
Seine Zeit als Fallschirmjäger hat ihn gerettet – es ist ihm gelungen, den Atemreflex zu unterdrücken.
Mit tauben Armen und schweren Kleidern schwimmt er durchs schwarze Wasser. Es ist nicht weit bis zum Kai, aber seine Körpertemperatur fällt rasend schnell. Neben ihm treiben Eisschollen. Er hat bereits jedes Gefühl in den Füßen verloren, aber seine Beine treten weiter.
Wellen schlagen ihm ins Gesicht.
Er hustet und spürt, dass seine Kräfte versiegen. Ihm wird schwarz vor Augen, aber er zwingt sich dennoch, weiterzuschwimmen, und erreicht die Kaimauer. Mit zitternden Händen versucht er, an den schmalen Fugen zwischen den Steinen Halt zu finden. Prustend bewegt er sich seitwärts und gelangt zu einer herabhängenden Eisenleiter.
Als er sie hochsteigt, schlägt das Wasser unter ihm klatschend gegen die Kaimauer. Seine Hände frieren am Metall fest. Er wird fast ohnmächtig, klettert aber trotzdem mit schweren Schritten weiter.
Stöhnend rollt er auf den Kai, steht auf und geht auf die Lastwagen zu.
Mit einer zitternden Hand vergewissert er sich, dass er seine Pistole nicht verloren hat.
Es sticht, als ihm Schnee ins nasse Gesicht weht. Seine Lippen sind ganz taub, und seine Beine zittern unkontrolliert.
Er läuft durch einen
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