Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
eine Art Sternbild auf.
Das unerwartete Muster, das schließlich sichtbar wurde, bestand darin, dass viele der Vermissten Familien angehörten, in denen mehr als eine Person spurlos verschwunden war.
Joona erinnert sich noch genau an die Stille, die im Raum herrschte, als sie einen Schritt zurücktraten und das Ergebnis betrachteten. Auf fünfundvierzig verschwundene Menschen traf genau dieses Kriterium zu. Viele von ihnen würden sie wahrscheinlich in den nächsten Tagen streichen können, aber fünfundvierzig waren fünfunddreißig mehr, als der Zufall eigentlich erlauben sollte.
19
An der Wand in Samuels Büro in der Zentrale der Landeskriminalpolizei hing damals eine große Karte von Schweden, auf der sie die Orte, an denen die Menschen verschwunden waren, mit Nadeln markiert hatten.
Ihnen war natürlich bewusst, dass nicht alle fünfundvierzig Vermissten ermordet worden waren, aber sie beschlossen dennoch, fürs Erste niemanden von ihrer Liste zu streichen.
Weil kein Einziger der einschlägig Vorbestraften in der Nähe gewesen sein konnte, als die Personen verschwanden, begannen sie nach einem Motiv und einer Vorgehensweise, einem Modus Operandi, zu suchen. Es gab keine Ähnlichkeiten zu aufgeklärten Mordfällen. Der Mörder, mit dem sie es diesmal zu tun hatten, hinterließ keine Spuren von Gewalt und versteckte die Leichen seiner Opfer sehr sorgfältig.
Anhand der von ihm ausgewählten Opfer teilt man Serienmörder in der Regel in zwei Gruppen ein: die Partikularisten, die stets das ideale Opfer suchen, das möglichst perfekt mit ihren Fantasiebildern übereinstimmt. Diese Mörder sind auf einen bestimmten Menschentyp ausgerichtet und suchen beispielsweise ausschließlich nach blonden Jungen in der Vorpubertät. Die zweite Gruppe nennt man die Generalisten – bei ihnen bestimmt die Verfügbarkeit die Wahl der Opfer. Sie nehmen vor allem eine Rolle in der Fantasie des Mörders ein, und dafür ist es im Grunde nebensächlich, wer das Opfer in der Wirklichkeit ist, oder wie sie oder er aussieht.
Der Serienmörder, dessen Existenz Joona und Samuel erahnten, stand jedoch außerhalb dieser Kategorien. Einerseits war er Generalist, weil seine Opfer so unterschiedlich waren, aber andererseits war keines von ihnen ein leicht verfügbares Opfer gewesen.
Sie suchten einen Serienmörder, der im Prinzip unsichtbar war. Er folgte keinem Muster und hinterließ keine Spuren oder absichtliche Markenzeichen.
Die Tage vergingen, ohne dass die verschwundenen Frauen aus Sollentuna gefunden wurden.
Joona und Samuel konnten ihrem Chef keine konkreten Spuren eines Serienmörders präsentieren. Sie wiederholten lediglich, dass es keine andere Erklärung für diese Vielzahl von Vermissten geben könne. Zwei Tage später wurde die Priorität der Ermittlungen herabgestuft und die Mittel für die Fahndung gestrichen.
Joona und Samuel konnten den Fall dennoch nicht einfach fallen lassen, sondern begannen, freie Abende und Wochenenden für ihre Suche zu opfern.
Sie konzentrierten sich auf das Muster, das besagte, wenn zwei Personen aus einer Familie verschwunden waren, erhöhte sich das Risiko erheblich, dass in naher Zukunft eine weitere verschwinden würde.
Während sie die Familie der Frauen observierten, die in Sollentuna verschwunden waren, wurden in Tyresö zwei Kinder als vermisst gemeldet. Mikael und Felicia Kohler-Frost. Die Kinder des berühmten Schriftstellers Reidar Frost.
20
Als Joona an einer schneebedeckten Raststätte mit Tankstelle vorbeikommt, wirft er einen kurzen Blick auf die Tankanzeige.
Er denkt an das Gespräch zurück, das er mit Reidar Frost und seiner Frau Roseanna Kohler führte, als ihre Kinder seit drei Tagen verschwunden waren. Er sagte ihnen nichts von seinem Verdacht – dass sie von einem Serienmörder getötet worden waren, nach dem die Kriminalpolizei nicht mehr suchte, einem Mörder, den sie nur auf einer theoretischen Ebene identifizieren konnten.
Joona stellte einfach seine Fragen und ließ die Eltern an dem Gedanken festhalten, dass ihre Kinder ertrunken waren.
Die Familie wohnte im Varvsvägen in einem schönen Haus mit Aussicht auf Sandstrand und Wasser. In den letzten Wochen hatten milde Temperaturen geherrscht, und große Mengen Schnee waren weggetaut. Die Straßen und Fußwege waren schwarz und nass. Das Wasser lag entlang der gesamten Uferlinie offen, und das verbliebene Eis war dunkelgrau und feucht.
Joona erinnert sich, dass er durch das Haus ging, an einer großen
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