Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
ungewöhnlich, dass Serienmörder sich Gesellschaft suchen«, wandte Joona ein.
»Das ist richtig, aber es deutet absolut nichts darauf hin, dass Jurek Walter zu dieser Gruppe gehören könnte«, sagte Samuel fröhlich. »Wir haben unsere Arbeit getan, wir sind fertig, aber du musst natürlich einen warnenden Zeigefinger heben und אכפיא אמליךו sagen.
»Sage ich das?«, fragte Joona lächelnd. »Was bedeutet das denn?«
»Aber vielleicht ist auch das Gegenteil richtig.«
»Das kann man natürlich immer hinzufügen«, bestätigte Joona.
27
Durch die Fensterscheiben voller kleiner Luftblasen fiel Sonnenlicht in den Wrangelschen Palast. Jurek Walters Verteidiger erklärte, die Gerichtsverhandlung belaste seinen Mandanten psychisch so stark, dass er keine Aussage darüber machen könne, warum er sich zum Zeitpunkt seiner Verhaftung am Tatort aufgehalten habe.
Joona war als Zeuge vorgeladen und beschrieb die gesamte Fahndungsarbeit sowie die Umstände der Verhaftung. Anschließend fragte der Verteidiger, ob Joona irgendeine Veranlassung dafür sehe, anzunehmen, dass die Darstellung des Tathergangs durch den Staatsanwalt von falschen Voraussetzungen ausgehe.
»Könnte mein Mandant in der ersten Instanz für die Tat eines anderen verurteilt worden sein?«
Joona begegnete dem angsterfüllten Blick des Verteidigers und sah gleichzeitig vor seinem inneren Auge, wie Jurek Walter die Frau immer wieder in den Sarg zurückgestoßen hatte, sobald sie herauszukriechen versuchte – ohne das geringste Anzeichen von Aggression.
»Ich stelle Ihnen diese Frage, weil Sie dort waren«, fuhr der Verteidiger fort. »Könnte es nicht vielmehr so gewesen sein, dass Jurek Walter in Wahrheit versucht hat, die Frau aus dem Grab zu retten?«
»Nein«, antwortete Joona.
Nach zweistündiger Beratung teilte der Vorsitzende Richter des Oberlandesgerichts mit, dass das Urteil des Amtsgerichts bestätigt werde. Jurek Walter verzog keine Miene, als das verschärfte Strafmaß verlesen wurde. Das Gericht beschloss, ihn in eine geschlossene Abteilung der Gerichtspsychiatrie zu überstellen, und für die eventuelle Prüfung einer Entlassung aus der Sicherheitsverwahrung wurden außerordentlich strenge Bedingungen formuliert.
Angesichts seiner unmittelbaren Verbindung zu mehreren laufenden Ermittlungsverfahren wurden zudem seine Rechte in einem ungewöhnlich strengen Maße beschnitten.
Als der Vorsitzende des Oberlandesgerichts die Verlesung des Urteils beendet hatte, wandte Jurek Walter sich an Joona. Sein Gesicht war von schmalen Fältchen überzogen, und seine hellen Augen blickten unverwandt in Joonas.
»Jetzt werden beide Söhne Samuel Mendels verschwinden« erklärte Jurek Walter mit nüchterner Stimme. »Und Samuels Frau Rebecka wird verschwinden. Aber … nein, hören Sie mir zu, Joona Linna. Die Polizei wird sie suchen, und wenn die Polizei aufgibt, wird Samuel weitersuchen, aber wenn er schließlich begreift, dass er seine Familie nie mehr wiedersehen wird, dann wird er sich das Leben nehmen.«
Joona stand auf, um den Gerichtssaal zu verlassen.
»Und Ihre kleine Tochter«, fuhr Jurek Walter fort und schaute auf seine Fingernägel hinab.
»Hüten Sie Ihre Zunge«, sagte Joona.
»Lumi wird verschwinden«, flüsterte Jurek. »Und Summa wird verschwinden. Und wenn Sie dann begriffen haben, dass Sie die beiden niemals finden werden … dann erhängen Sie sich.«
Er blickte auf und sah Joona in die Augen. Sein Gesicht strahlte Ruhe aus, so als wäre für ihn die Ordnung bereits wiederhergestellt.
Normalerweise wird der Verurteilte in seine Zelle zurückgeführt, bis feststeht, wohin er verlegt wird, ob er in eine Justizvollzugsanstalt oder eine Klinik gebracht wird. Das Personal im Kronoberg-Gefängnis für Untersuchungshäftlinge war jedoch so darauf bedacht, Jurek Walter loszuwerden, dass man bereits vorsorglich einen Gefangenentransport vom Wrangelschen Palast zum Sicherheitstrakt der Gerichtspsychiatrie zwanzig Kilometer nördlich von Stockholm organisiert hatte.
*
Jurek Walter sollte in der bestbewachten Abteilung dieser Art in Schweden auf unbestimmte Zeit isoliert werden. Samuel Mendel hatte seine Drohung als ohnmächtige Worte eines geschlagenen Mannes betrachtet, wohingegen Joona der Gedanke nicht aus dem Kopf ging, dass diese Drohung wie eine Wahrheit, eine feststehende Tatsache ausgesprochen worden war.
Als man keine weiteren Leichen mehr fand, wurde die Dringlichkeit der Ermittlungen heruntergestuft.
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