Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Landeskriminalpolizei wusste so gut wie nichts über Jurek Walter. Entscheidend für die Vermutung, dass er einen Komplizen hatte, war die Tatsache, dass Samuel Mendels Familie nach seiner Verhaftung verschwunden war.
Aber dieser Mittäter hatte keine Spuren hinterlassen.
Er war der Schatten eines Schattens.
Die Kollegen meinten, es sei hoffnungslos, aber Joona gab nicht auf. Es war ihm bewusst, dass es nicht leicht werden würde, den unsichtbaren Gehilfen zu finden und zu ergreifen. Es mochte Jahre dauern, und Joona war auch nur ein Mensch. Er würde nicht suchen und gleichzeitig Summa und Lumi bewachen können, nicht beide und nicht jede Sekunde.
Wenn er zwei Leibwächter einstellte, die sie rund um die Uhr begleiteten, würden die Ersparnisse der Familie innerhalb eines halben Jahres aufgebraucht sein.
Jureks Komplize hatte monatelang gewartet, bis er sich Samuels Familie schnappte. Er besaß offensichtlich viel Geduld und überstürzte nichts.
Joona versuchte, gemeinsame Auswege für sie zu finden. Sie würden fliehen, neue Jobs und Identitäten annehmen und irgendwo in aller Ruhe weiterleben können.
Nichts war wichtiger, als mit Summa und Lumi zusammen sein zu dürfen.
Als Polizist wusste er jedoch, dass neue Identitäten keineswegs vollkommen sicher waren, sie verschafften einem lediglich eine Atempause. Je weiter man wegkam, desto mehr ruhige Atemzüge waren einem vergönnt, aber auf der Liste mit Jurek Walters mutmaßlichen Opfern stand auch ein Mann, der in Bangkok spurlos aus einem Aufzug im Sukhothai Hotel verschwunden war.
Sie konnten nirgendwohin.
In jener Nacht musste Joona schweren Herzens akzeptieren, dass es etwas gab, was noch wichtiger war, als mit Summa und Lumi zusammen zu sein.
Das Leben der beiden war wichtiger.
Wenn er mit ihnen floh oder verschwand, wäre dies einer Aufforderung für Jurek gleichgekommen, die Suche aufzunehmen. Und wenn man suchte, fand man Menschen, die sich versteckten, früher oder später, das wusste Joona.
Jurek Walter darf nicht suchen, dachte er. Das war der einzige Weg, um nicht gefunden zu werden.
Es gab nur eine Lösung. Jurek Walter und sein Schatten mussten glauben, dass Summa und Lumi tot waren.
31
Als Joona sich auf der breiten Autobahn Stockholm nähert, wird der Verkehr dichter. Schneeflocken wirbeln herab und verschwinden auf der nassen Fahrbahn.
Er erträgt es nicht, daran zu denken, wie er damals Summas und Lumis Tod vortäuschte, damit sie ein anderes Leben würden führen können. Åhlén hatte ihm widerwillig geholfen. Er hatte eingesehen, dass es das Richtige war, falls es den Komplizen tatsächlich geben sollte. Wenn Joona sich dagegen irrte, hatten sie einen Fehler von unüberschaubarer Tragweite begangen.
Dieser Zweifel hatte die hagere Gestalt des Gerichtsmediziners mit den Jahren in Trauer gehüllt.
Der Zaun des Nordfriedhofs flirrt am Wagen vorbei, und Joona erinnert sich an den Tag, an dem Summas und Lumis Urnen in die Erde hinabgesenkt wurden. Regen schlug auf die Seidenbänder ihrer Kränze und prasselte auf die schwarzen Regenschirme.
Joona und Samuel setzten ihre Suche auf eigene Faust fort, hatten aber keinen Kontakt mehr zueinander. Ihr unterschiedliches Schicksal hatte sie einander entfremdet. Elf Monate nach dem Verschwinden seiner Familie gab Samuel die Suche auf und kehrte in den Dienst zurück. Drei Wochen harrte er aus, nachdem er jede Hoffnung aufgegeben hatte. Am frühen Morgen eines strahlend schönen Märztages fuhr Samuel zu seinem Sommerhaus hinaus. Er ging zu der schönen Stelle am Ufer hinunter, an der seine Jungen immer schwimmen gegangen waren, löste seine Dienstpistole aus dem Halfter, lud sie und schoss sich in den Kopf.
Als Joonas Chef ihm telefonisch mitteilte, dass Samuel tot war, begann er, furchtbar zu frieren.
Zwei Stunden später ging er fröstelnd zu dem alten Uhrengeschäft in der Roslagsgatan. Der Laden war längst geschlossen, aber der alte Uhrmacher arbeitete mit einer Lupe vor dem linken Auge noch inmitten eines Meers aus den unterschiedlichsten Uhren. Joona klopfte gegen die Glasscheibe der Tür und wurde hereingelassen.
Als er das Geschäft zwei Wochen später verließ, wog er sieben Kilo weniger. Er war blass und so schwach, dass er alle zehn Meter stehen bleiben und sich ausruhen musste. Er übergab sich in dem Park, der später den Namen der Jazzsängerin Monica Zetterlund erhalten sollte, und stolperte von da aus weiter Richtung Odengatan.
Joona hatte nie daran gedacht, dass er
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