Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Direktor ihn.
»Letztlich ist es doch nur eine Frage der Medikation«, meint Anders Rönn.
»Na ja, man kann sie ja schlecht betäuben«, wirft Hoffman lachend ein.
»Natürlich kann man das, falls es wirklich nötig sein sollte«, widerspricht Anders Rönn ihm mit einem jungenhaften Lächeln. »Ein gutes Beispiel dafür ist das Sankt Sigfrids … dort waren wir so überlastet, dass wir ständige Zwischenfälle einfach nicht gebrauchen konnten.«
Er sieht den aufmerksamen Blick des Direktors, hebt unbekümmert die Augenbrauen, breitet die Hände aus und sagt langsam:
»Wir alle wissen, dass hohe Dosierungen für den Patienten unter Umständen unangenehm sein können, aber wenn ich die therapeutische Verantwortung für den Sicherheitstrakt hätte, würde ich lieber kein Risiko eingehen.«
69
Agnes sitzt in ihrem blauen Pyjama mit den Hummeln darauf auf dem Fußboden. Sie hält die kleine weiße Haarbürste in der Hand und tastet jede einzelne Borste mit der Fingerspitze ab, eine nach der anderen, als würde sie sie zählen. Anders sitzt mit der Barbiepuppe in der Hand vor ihr auf dem Boden und wartet.
»Bürste der Puppe mal die Haare«, sagt er.
Agnes sieht ihn nicht an und berührt weiter jede einzelne Borste, Reihe für Reihe, langsam und konzentriert.
Er weiß, dass sie nicht so spontan spielt wie andere Kinder, aber sie spielt auf ihre Art. Es fällt ihr schwer zu verstehen, was andere sehen und denken. Sie hat ihren Barbiepuppen niemals Leben eingehaucht, nur ihre mechanischen Eigenschaften ausprobiert, Arme und Beine gebeugt und den Kopf gedreht.
In den Kursen des Autismus- und Aspergerverbands hat er jedoch gelernt, dass man mit ihr Spiele trainieren kann, wenn man sie in einzelne Sequenzen einteilt.
»Agnes? Bürste der Puppe mal die Haare«, wiederholt er.
Sie hört auf, an der Bürste herumzufingern, streckt sie aus, zieht sie durch das blonde Haar der Puppe und wiederholt die Bewegung zwei Mal.
»Die ist jetzt aber schön geworden«, sagt Anders.
Agnes geht wieder dazu über, die Bürste abzutasten.
»Hast du gesehen, wie schön die Puppe geworden ist?«, fragt er.
»Ja«, antwortet sie, ohne hinzuschauen.
Anders greift nach einer Cindy-Puppe und kommt nicht dazu, etwas zu sagen, da Agnes sich sofort vorbeugt und lächelnd ihre Haare bürstet.
Als Agnes drei Stunden später schläft, setzt Anders sich auf die Couch und guckt Sex and the City . Vor dem Haus fallen schwere Schneeflocken durch das gelbe Licht der Außenbeleuchtung. Petra ist auf einer Betriebsfeier. Victoria hat sie schon um fünf abgeholt. Sie wollte früh zurück sein, aber jetzt ist es schon fast elf.
Anders trinkt einen Schluck kalten Tee und schreibt Petra per SMS, dass Agnes ihren Puppen die Haare gebürstet hat.
Er ist müde, möchte ihr aber gerne noch erzählen, dass man ihm die Verantwortung für den Sicherheitstrakt übertragen und eine feste Stelle zugesichert hat.
In der Werbepause steht Anders auf, um in Agnes’ engem Zimmer das Licht zu löschen. Die Nachtlampe hat die Form eines Hasen in Lebensgröße. Der Hase verströmt eine angenehme rosafarbene Helligkeit, und der sanfte Lichtschein liegt auf dem Laken des Betts und auf Agnes’ ruhigem Gesicht.
Der Fußboden ist von Legosteinen, Puppen, Puppenhausmöbeln, Plastikobst, Stiften, Prinzessinenkronen und einem kompletten Porzellanservice übersät.
Anders begreift nicht, wie dieses Durcheinander entstehen konnte.
Er muss sich schlurfend durch den Raum bewegen, um nicht auf irgendetwas zu treten. Die Spielsachen, die über den Holzboden gleiten, machen leise Geräusche. Er streckt sich vorsichtig, um an den Schalter heranzukommen, als er zu sehen meint, dass neben dem Bett ein Messer auf dem Boden liegt.
Das große Barbie-Puppenhaus steht im Weg, aber durch die kleine Türöffnung kann er die Stahlklinge erkennen.
Anders nähert sich vorsichtig und bückt sich. Sein Herz pocht schneller, als er sieht, dass dieses Messer dem ähnelt, das er im Isolierzimmer gefunden hat.
Er begreift das nicht, er hat das Messer doch Brolin gegeben.
Agnes beginnt, im Schlaf unruhig zu wimmern und zu wispern.
Anders kriecht über den Boden und streckt seine Hand ins Erdgeschoss des Puppenhauses, stupst die kleine Tür weit auf und streckt sich nach dem Messer.
Der Fußboden knackt leise, und Agnes atmet unregelmäßig.
Im Dunkeln unter dem Bett glimmt etwas. Vielleicht sind es die glänzenden Augen des Teddys. Durch das Puppenhaus mit seinen Sprossenfenstern
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